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Die Interpretationsgeschichte der >Ansichtigkeit<

9i

Linie des aufgezogenen linken Beines weiterzu-
führen. [Hekler 1907, 260]

Diese bildhafte Aneignung läßt einen wesent-
lichen Unterschied der sprachlichen und der
zeichnerischen Rezeption verschwinden. Nun
betonen Beschreibungen genauso wie Nach-
zeichnungen bildflächenbezogene Aspekte der
Statuen, was die wachsende Ähnlichkeit der
Interpretationen beider Medien im Zeichen der
Geometrie fördert. Zwar zeichneten bereits in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einige
Künstler mehrere Ansichten einer Statue. l8t
Doch sind es die Fotografen, die zuerst eine
Fülle unterschiedlichster, dem Normalbetrach-
ter teils unzugängliche Blicke festhalten. Ver-
schiedenste Ansichten einer Skulptur können
nun nebeneinandergelegt und verglichen wer-
den. Sie verselbständigen sich von der Statue. l8s
Folge dieser technischen Entwicklung ist, daß
beschreibende Texte sich um die Charakterisie-
rung einzelner, voneinander streng getrennter
Ansichten bemühen.186 So beschreibt Hartt -
durchaus im Einklang mit David d'Angers
(Taf. 37) - einerseits die seitliche Ansicht der
Notte: »the diagonal view reveals great beau-
ties, in the long, blade-like curves of the ankles
and thighs« [1969, 207], andererseits aber
auch ihre Draufsicht und Rückenansicht:

The hidden view is by no means so larval as that
of the Giomo, and the view from above shows
clearly the initial elegance of the figure, with its
long, clean lines, exquisitely smoothed in every
nuance. [Hartt 1969, 204]

Was er damit beschreibt, ist nicht die Statue. Es
sind jene Fotografien, die während der kriegsbe-
dingten Räumung der Kapelle in den 1940er Jah-
ren aufgenommen werden konnten und die in
seinem Buch abgedruckt sind (Abb. 13 und 14).

14 Michelangelo, Notte, nach Hartt [1969,
Abb. 194/

Fotografen entstehen, welche ihre Aufnahmen als
geniale Interpretation verstehen: Baldini [1981, Fotos
von Liberto Perugi] und Beck [1993, Fotos von Aure-
lio Amendola]. Diese Fotografen bevorzugen ausgefal-
lene Standorte und eigenwillige Ausschnitte, die ihren
Originalitätsanspruch unterstreichen, während sie

durch die künstliche Ausleuchtung suggestive Ein-
drücke bewirken.
186 Bereits Justi [1900, 37z) schreibt über die Skulpturen
Michelangelos: »Jede der - typischen - Ansichten der
Gestalt hat ihren eigenen Charakter und Wert, ihre
besondere Schönheit«. Als erster dürfte er, den unter-
 
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