Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. gr. 57
Stephanus Byzantius, Ethnica
Papier · 2, 149, 2 Bll. · 27,5 × 19,5 cm · Venedig (?) / Venetien · Um 1485–1490
- Schlagwörter (GND)
- Antike / Reise / Geographischer Name / Römisches Reich / Stephanus Byzantinus.
- Diktyon-Nr.
- 65790.
1ar–2av | vacant | |
1) | 1r–149v | Stephanus Byzantius, Ethnica |
Kodikologische Beschreibung
- Entstehungsort
- Venedig (?) / Venetien.
- Entstehungszeit
- Um 1485–1490 . Siehe Geschichte der Handschrift.
- Typus (Überlieferungsform)
- Codex.
- Beschreibstoff
- Westliches Papier, ff. 1+10 westliches Pergament.
- Umfang
- 2, 149, 2 Bll.
- Format (Blattgröße)
- 27,5 × 19,5 cm.
- Zusammensetzung (Lagenstruktur)
- (I-1)1a + 12a + V10 + 13 V140 + (V-1)149 + 1150* + (I-1)151*. Vorderspiegel ist Gegenbl. von 1a, Hinterspiegel Gegenbl. von 151*. Der erste Quinio (= f. 1–10) wird gesondert gelistet, da die Papierblätter f. 2–9 von einem Bifolium aus Pergament (= f. 1/10) gefasst wurden. In Stephani Byzantii Ethnica, s. Literatur, S. 13* mit Anm. 25 geht die Herausgeberin in Übernahme aus Diller, Tradition, siehe Literatur, S. 341, davon aus, dass es sich hier um eine Beschädigung der ersten Lage gehandelt habe, die später repariert worden wäre. Daher wird hier eine abweichende Schreiberhand (= P3) angesetzt. Dies trifft aber nicht zu. Vielmehr verlangte das Pergament eine andere Feder sowie einen anderen Schreibduktus, was zu einem scheinbar anderen, in Wirklichkeit jedoch nur sorgfältiger wirkenden Schriftbild führte. Offenbar wies darauf aber auch schon der in der oben genannten Anm. 25 erwähnte Dieter Harlfinger hin.
- Foliierung
- Vatikanische Bleistiftfoliierung im Kopfsteg rechts (f. 1–149). Die Bezeichnung der ungez. Bll. folgt dem Digitalisat (1a, 2a, 150*, 151*).
- Lagenzählung
- Keine Lagenzählung erkennbar.
- Zustand
- Die Handschrift befindet sich in einem mit Rücksicht auf ihr Alter sehr guten Zustand. Am Anfang und Ende leichte Feuchtigkeitsschäden, daher stockfleckig. Bis auf die Korrektureinträge nur wenige Benutzungsspuren. Das Papier ist an den Rändern sehr dünn, was auf eine nicht übermäßig gute Qualität des Beschreibstoffs rückschließen lässt.
- Wasserzeichen
- F. 2–8, 10–50 Dreiberg mit
einkonturiger Stange und Stern/Mons ähnlich
Briquet
11755 (belegt für
Padua 1484). F. 51–149 Aufsteigender Drache/Basilic,
derzeit nicht über die gängigen Nachschlagewerke recherchierbar,
allenfalls als Mischform aus Briquet
2653 (belegt Udine
1487) und 2655 (belegt
Manuta 1499) anzusehen; dieses Papier wurde mit einem gut
unterscheidbaren Paar Schöpfrahmen hergestellt. Da für beide Fälle
bislang kein entsprechender, eindeutig datierbarer Beleg existiert, kann
mit den Wasserzeichen allenfalls chronologisch-unterstützend argumentiert
werden.
Die Wasserzeichen der Hs. sind in heidICON erschlossen (Wasserzeichen Pal. gr. 57).
- Schriftraum
- 21,0 × 12,5 cm.
- Spaltenanzahl
- 1 Spalte.
- Zeilenanzahl
- 30 Zeilen.
- Linierung
- Nur das einspaltig beschriebene Bifolium aus Pergament (f. 1+10) zweispaltig liniert wie Leroy 1995, 00A2.
- Schriftart
- Georgios Chomatas (= Hand P) zeigt einen flüssigen, an die späten byzantinischen Buchschriften des 15. Jahrhunderts angelehnten Schreibstil (= Tendenz zur Einzelsetzung der Buchstaben zwecks besserer Lesbarkeit), zu den Charakteristika s. ausführlich RGK I, Nr. 54. Einige Elemente wie etwa die Tau-Ligaturen, oder die Formen der Buchstaben Beta und Chi lassen – wie auch im Falle des Georgios Tribizias, dem Schreiber der Parallelhandschrift Pal. gr. 253 – den Einfluss des Basileios Bessarion erkennen, in dessen Diensten Chomatas bis zum Tod des Kardinals am 18. Nov. 1472 gestanden hatte. Die Schrift Niccolò Tomeos hingegen kann als individuelle Gelehrtenschrift bezeichnet werden, auch wenn der stilprägende Einfluss seines Lehrers teilweise unverkennbar ist.
- Angaben zu Schrift / Schreibern
- Eine Haupthand P (= Text) sowie eine etwas jüngere Nebenhand P1 (nomina propria auf den Außenstegen). Zu der vermeintlichen Hand P3 s. bereits zur Lagenstruktur. Hauptschreiber P war der aus Kreta stammende Georgios Chomatas (τοῦ Ἀλεχξάνδρου), Biographie s. RGK I, Nr. 54. Zu dieser Handschrift vgl. auch ergänzend Stefec 2014, S. 181. Die Identifizierung seiner Hand ist über seine Subskription im Cod. Laur. Plut. 32.22, f. 234v möglich, so erstmals Elpidio Mioni, Bessarione scriba e alcuni suoi collabortori, in: Miscellanea Marciana di studi Bessarionei, a cura di Elpidio Mioni, Padua 1976, S. 296. Von Chomatas stammen auch die rotschriftlichen Einträge innerhalb des Textblocks sowie ganz wenige auf den Rändern nachgetragene Textauslassungen. Als Schreiber P2 konnte Giacomelli, Calfurnio, siehe Literatur, völlig zutreffend Niccolò Leone Tomeo, einen venezianischen Schüler des Georgios Chomatas, bestimmen (Schriftvergleich über den von Tomeos Hand stammenden Cod. Par. gr. 2043). Von ihm stammt das mit roter Tinte geschriebene Register der Eigennamen auf den Rändern sowie an gleicher Stelle mit schwarzer Tinte notierte grammatikalische Marginalien (ausgeführt bis f. 102, danach nur gelegentlich). Außerdem hat Tomeo mitunter den Haupttext mit schwarzer Tinte nachgezogen.
- Buchgestaltung
- Eher platzsparender Eintrag des Textblocks, die Handschrift wurde aber nicht fertiggestellt. Für den Text der Ethnica wendet der Schreiber eine doppelte Gliederung an, zum einen durch einen entsprechenden Vermerk, wenn innerhalb der alphabetischen Ordnung ein Folgebuchstabe einsetzt (ἀρχὴ τοῦ α, ἀρχὴ τοῦ β etc.), zum anderen eine griechische Zählung nach Büchern, die sich z. B. in der Parallelhandschrift des Pal. gr. 253 nicht findet. Diese Zählung findet sich in f. 1r–72v und 99r–102r (αʹ-κβʹ, λγʹ-λεʹ). Mit f. 102 endet übrigens auch der farbig markierte Beginn der einzelnen Lemmata. Dazwischen und danach ist sie lückenhaft bzw. fiel ganz aus. Eine Buchzählung begegnet ansonsten nur noch innerhalb des Buchstaben Tau (f. 124r–131r = βιβλίον αʹ, ab f. 131r βιβλίον βʹ). Die gesamte Zählung wäre aufgrund des sehr stark schwankenden Umfangs der einzelnen Bücher auch nicht mit entsprechend starken oder weniger starken Pergamentrollen des Ursprungstextes der Ethnica erklärbar und wurde erst im Nachgang von P mit roter Tinte eingesetzt. Dies belegt der für die Eintragungen oft fehlende Platz. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Schreiberirrtum, der die originale innere Gliederung der einzelnen Buchstabengruppen, wie sie der Pal. gr. 253 bietet, nicht richtig verstand und stattdessen zu einem unbekannten Zeitpunkt eine durchgehende Zählung einführte. Nach f. 78r blieben die Blätter bis einschließlich f. 80v leer. Hier wurde Platz für die bekannte Textlücke im Text der Ethnica zwischen den Einträgen κέλαιθρα (= Nr. 154) und κόρακος πέτρα (= Nr. 155) gelassen. Offenbar ging der Schreiber (wie auch im Falle einiger Parallelhandschriften) davon aus, diese Leerstelle ggf. noch füllen zu können. Die Handschrift wurde nicht fertiggestellt. Daher fehlen u.a. fast alle Rubrizierungen am Beginn der einzelnen Lemmata ab f. 102 (partiell auch bereits zuvor). Auch der rotschriftlich erfolgte Beginn der jeweiligen Buchstabengruppe kam nicht mehr zur Ausführung. Auffällig ist jedoch, dass sowohl die Überschrift, als auch die Schlusszeile des Schreibers in der Art gedruckter Bücher ausgeführt wurden, was möglicherweise Rückschlüsse auf den Verwendungszweck der Handschrift zulässt.
- Buchschmuck
- Zierelemente liegen keine vor. Nur nach der Überschrift findet sich ein wenig Blattwerk. Allenfalls der Farbwechsel der Tinte für die Überschriften und die Subskription und deren Schriftart können hier unter Vorbehalt als schmückende Elemente bezeichnet werden. Die schlichte Machart der Handschrift könnte ein Indiz dafür sein, dass sie ursprünglich nicht für einen Verkauf gedacht war, siehe aber auch Geschichte der Handschrift.
- Nachträge und Benutzungsspuren
- Signaturenmarke der BAV auf dem Vorderspiegel. Ein Rest des originalen Vorsatzblattes aus der Fuggerbibliothek wurde auf f. 1 aufgeklebt und zeigt Signatur, den Sammlungsvermerk Hen(ricus) sowie die lateinische Inhaltsbezeichnung Stephanus de Gentibus et urbibus. Bibliotheksstempel der BAV auf f. 1r und 149v, im Fußsteg Texthinweis 57. Pal. G. für den vatikanischen Buchbinder. Weiterhin hat sich möglicherweise ein Zettel mit dem Kaufpreis 3 (oder 5?) ΦΛ (= Florin) abgebildet. Die Registervermerke auf den Außenstegen (= Hand P2) dürften zeitgleich oder nur wenig später entstanden sein. Das gilt auch für die gelegentlichen Klammern, die in der Regel auf eine erzählende Textpassage verweisen. Da die Handschrift ab f. 102 nicht mehr fertig ausgearbeitet wurde, finden sich auch nur sehr wenige Registervermerke. Wenige wurden auf kleine Papierstreifen geschrieben und entsprechend auf den Rand eingeklebt. Auf dem Hinterspiegel Restaurierungsmarke der BAV datiert auf den 6. April 2009. Im Rahmen dieser Restaurierung wurden die Blätter 2a + 150* als Umschlag des Buchblocks eingefügt.
- Einband
- Roter Ledereinband der BAV aus der Zeit von Kardinalbibliothekar Francesco Saverio de Zelada und Papst Pius VI.; späterer Rücken mit goldenen Wappenstempeln von Papst Pius IX. (oben) und Kardinalbibliothekar Angelo Mai (unten), vgl. Schunke, Einbände, Bd. 2, S. 909.
- Provenienz
- Augsburg / Heidelberg.
- Geschichte der Handschrift
- Wie im Folgenden darzulegen sein wird, ist für die
Entstehung der Handschrift die Zeit zwischen etwa 1485 und 1492 anzusetzen. Ihr
Kopist, der Priester und Unionsanhänger Georgios Chomatas, war einer der
zahlreichen Schüler des Michael Apostoles, was noch einige Elemente seiner
Schrift erkennen lassen. Im Sommer 1475 war Chomatas nicht ganz unfreiwillig
aus Kreta nach Venedig gekommen, nachdem er in Rom nicht hatte reüssieren
können (einen exellenten biographischen Überblick mit früherer Literatur zu
seiner Person bieten Eleftherios Derspotakis/Thierry Ganchou, Geôrgios
Alexandros Chômatas, succèsseur de Dèmètrios Chalkokondylès à la chaire de Grec
de l’Université de Padoue [1476/76–1479], in: Revue des Études Byzantines 75
[2018], S. 233–265). Bis dahin war er dort mit einer Gruppe weiterer Priester
auf Veranlassung Bessarions mit einer jährlichen Apanage aus dessen Einkünften
bezahlt worden. Nach dessen Tod suchten die Nachfolger des Kardinals letzten
Endes auch erfolgreich Auswege aus dieser ererbten finanziellen Verpflichtung.
Aufgrund von Empfehlungsschreiben gelang es Chomatas zum Herbst 1475 immerhin,
den schlecht dotierten Griechischlehrstuhl an der Universität Padua zu
besetzen, den er bis 1479 innehaben sollte. Spätestens nach dieser Zeit dürfte
er verstärkt mit dem Kopieren griechischer Kodizes begonnen haben, da ihm feste
Einkünfte fehlten. In dieser Hinsicht wies Chomatas explizit auf seine
Bedürftigkeit hin, als er sich 1483 etwa auf den katholischen Bischofssitz von
Trogir (Dalmatien) bewarb. Bereits 1480 hatte er sich - gleichfalls erfolglos -
auf den unierten Sitz in Hierpetra (Kreta) beworben. Die
Handschriftenproduktion konnte damit in materieller Hinsicht immerhin eine
gewisse Abhilfe schaffen. Mit den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts wäre aber
auch der Entstehungszeitraum der meisten bekannten Stephanus
Byzantius-Handschriften erreicht, die fast ausnahmslos in eben dieser Dekade
entstanden sind. Für eine genauere Datierung des Pal. gr. 57 können die
Wasserzeichen leider nur bedingt herangezogen werden, da sicher zuordenbare
Parallelen noch fehlen. Ähnliche Papiere lassen sich immerhin in den Zeitraum
von 1490 bis spätestens 1500 datieren. Als terminus ante quem für die
vorliegende Handschrift benannte die moderne Herausgeberin der Ethnica den 31.
März 1492, da zu diesem Zeitpunkt der über wenige Zwischenglieder vom Pal. gr.
57 ausgehende Cod. Laur. Plut. IV.3.31 fertiggestellt worden wäre, s. Stephani
Byzantii Ethnica, siehe Literatur, S. 13*. Zusammenfassend können in einem
ersten Schritt also die Jahre 1480 bis spätestens 1492 als Entstehungzeitraum
für den Palatinus benannt werden, auch wenn die zuletzt erschienene Ausgabe der
Ethnica stemmatisch als nicht ganz unproblematisch zu beurteilen ist.
Berücksichtig man nun einerseits noch die nachweisbare Verbindung von Chomatas
zu seinem Schüler Niccolò Leone Tomeo, der als Hand P1 an dieser Handschrift
beteiligt war und erst am 7. Mai 1485 unter Beteiligung seines Lehrers sein
Laureat in Padua erhalten hatte, und andererseits einen gewissen Zeitraum für
den Kopiervorgang der vom Pal. gr. 57 abhängigen Codices, ließe sich die
Entstehung der vorliegenden Handschrift in einem zweiten Schritt etwa auf die
Jahre von 1485 bis 1490 eingrenzen, wobei Georgios Chomatas im Jahr 1489 das
venezianische Bistum von Arkadien zugesprochen wurde und sich seine
finanziellen Sorgen damit erledigt hatten. Mit dieser Stellung ist er bis zu
seiner Rückkehr nach Kreta im Jahr 1501 nachweisbar. Wie bereits oben erwähnt,
wurde der Pal. gr. 57 mitsamt den Registervermerken auf den Außenstegen nicht
fertiggestellt. Ab f. 102 fehlen nicht nur diese Vermerke, sondern auch die
weitere Rubrizierung der Lemmatainitialen unterblieb – was sich chronologisch
womöglich mit der Ernennung des Chomatas zum Bischof in Verbindung bringen
ließe.
Die gesamte direkte Überlieferung der Ethnica des Stephanus Byzantius mit voneinander abhängigen Textzeugen stammt, wie bereits erwähnt, aus den Jahren 1480 bis 1492, was doch gewisse Zweifel an der Authentizität des Textes erwecken sollte – zumal es nach der ersten Drucklegung durch Aldo Manuzio im Jahr 1502 offenbar kein überaus großes Interesse mehr an Ethnica-Handschriften gegeben zu haben schien. Immerhin ist es ja möglich, dass die gesamte heute bekannte Epitome der Ethnica auf Grundlage der indirekten Überlieferung und vergleichbarem Textmaterial erst in der Dekade nach 1480 erstellt worden wäre. Der 1494 verstorbene venezianische Humanist Ermolao Barbaro könnte treibende Kraft hinter einem solchen lexikalischen Projekt gewesen sein - wobei selbst späte Stephanus-Handschriften wie der von Ioannes Rhosos (er stammte gleichfalls aus dem Umfeld von Bessarion!) in Padua kopierte Cod. Laur. Plut. IV.3.31 eben nicht auf ein vermeintlich verlorenes Original zurückgehen, sondern auf ein vom Pal. gr. 57 abhängiges Zwischenglied. Über das weitere Geschick des Palatinus bis zur Erwerbung durch Ulrich Fugger lassen sich allenfalls Spekulationen anstellen. So wäre es möglich, dass Chomatas nach seiner Ernennung zum Bischof von Arkadien im Mai 1489 sein Interesse an solchen Projekten verlor und der Codex in seinen Unterlagen verblieb, ohne jemals fertiggestellt zu werden. Offenbar verblieb er in Padua oder Venedig, als Chomatas 1501 nach Kreta reiste (und dort womöglich verstarb). Auch die Frage, ob Tomeo jemals selbst Besitzer dieser unvollendeten Handschrift war, lässt sich aus seiner aktiven Mitarbeit allein nicht positiv beantworten. Aldo Manuzio hat für seine oben genannt Druckausgabe den Pal. gr. 253 herangezogen, obwohl dieser in philologischer Hinsicht weniger zuverlässig ist als der ihm sicherlich gleichfalls zugängliche Pal. gr. 57. Immerhin dürfte die Handschrift Venedig bzw. Venezien nicht verlassen haben, bis es in den 1550er Jahren zu ihrem Verkauf an Henri Estienne kam (vgl. dazu den Sammlungsvermerk Hen[ricus] auf f. 1r). Henris Vater Robert Estienne war 1550 zum Calvinismus konvertiert und hatte sich mit seinem Sohn in Genf niedergelassen, wo man die Arbeiten an dem bedeutenden Thesaurus linguae Graecae begann. Das machte nun einen größeren Bedarf an griechischen Texten erforderlich, und gerade ein Nachschlagewerk wie die Ethnica bot sich für ein solches Projekt in besonderer Weise an. Zudem ist ja allgemein bekannt, dass Henri Estienne für seine philologischen Recherchen gezielt den Kontakt zur griechischsprachigen Bevölkerung suchte – wofür sich das damalige Venedig natürlich sehr anbot. Zur selben Zeit suchte Henri Estienne auch den Kontakt mit Ulrich Fugger, der ihn bis zu seinem eigenen Konkurs im Jahr 1567 finanziell massiv unterstützten sollte. Zum Zweck des Handschriftenkaufs in Venetien bzw. über Venedig wurde in dieser Zeit seitens der Familie Fugger eine Wohnung in Padua angemietet, die Henri Estienne bereits vor Henry Scrimgeour zur Verfügung gestellt wurde. Estienne wurde in der Korrespondenz mit Ulrich Fugger im Gegensatz zu seinem schottischen Namensvetter immer als dominus tituliert, was als Ausdruck einer hohen Wertschätzung angesehen werden kann. Dass diese Wohnung auf der venezianischen Terra ferma liegen musste, erklärt sich durch die stark eingeschränkten Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer in das Gebiet der Lagune. Dabei lag sie wohl nicht zufällig unweit der Klöster Santa Guistina und S. Giovanni di Verdara, die aufgrund von Legaten u.a. auch über zahlreiche griechische Handschriften verfügten, ohne dass man ein größeres Interesse an diesem Erbgut gezeigt hätte. Sowohl die für Estiennes eigenen Bedarf, als auch die für Ulrich Fugger erworbenen Kodizes wurden in dessen Augsburger Bibliothek aufgestellt. Als der Erstgenannte in der zweiten Hälfte der 1550er Jahre selbst in finanzielle Schwierigkeiten geriet, schlug ihm Ulrich Fugger die Überlassung seiner Handschriften bei künftig freiem Zugang zur Bibliothek vor, worauf Henri Estienne nolens volens eingehen musste. Im Zuge des Konkurses und der Vertreibung Ulrich Fuggers aus Augsburg im Jahr 1567 gelangte auch dessen Bibliothek nach Heidelberg. Vereinbart wurde ihre Aufstellung in der Heiliggeistkirche, 1571 wurden sie testamentarisch den Kurfürsten der Pfalz vermacht. Nach dem Tod Ulrich Fuggers im Februar 1584 erfolgte der rechtsgültige Übergang der Bibliothek in den Besitz der Kurfürsten und damit in den Bestand der für die Zukunft namensgebenden Bibliotheca Palatina. Nach der Eroberung Heidelbergs 1621/22 gelangte der Pal. gr. 57 im Bestand der Bibliotheca Palatina als ererbtes Geschenk des bayerischen Herzogs Maximilian an Papst Gregor XV. über München nach Rom, seither Aufstellung in der BAV.
- Literatur
- Stevenson, Graeci, S.
29; Aubrey Diller, The Tradition of Stephanus Byzantius, in: Transactions and Proceedings of the Americ. Philol. Assoc. 69 (1938), S. 341, 345–348 (= ders., Studies in Greek Manuscript Tradition, Amsterdam 1983, S. 191, 195–198); Ciro Giacomelli, Per i «graeca» di Giovanni Calfurnio. Codici, postillati e alcune nuove attribuzioni, in: Archivum mentis. Studi di filologia e letteratura umanistica 9 (2020), S. 112, 124–125, 134; S. Martinelli Tempesta, Trasmissione di testi greci esametrici nella Roma di Niccolò V. Quattro codici di
Demetrio Xantopulo e una lettera i Bessarione a Teodoro Gaza, in: Segno e testo 13, 2015, S. 271–350; I manoscritti greci di Perugia. Biblioteca comunale Augusta e Biblioteca dell'Archivio
del Monastero di San Pietro, a cura di Isabella Proietti, Spoleto 2016, S. 87; Stephani Byzantii Ethnica, I: Α-Γ, rec., Germanice vertit adnotationibus indicibusque instr. M Billerbeck, adiuvantibus J. F. Gaertner, B. Wyss, C. Zubler, Berlin/New York 2006, S. 13*, 18*–23*; Stefec 2014, S. 181, 195; Niccolò Zorzi, Un feltrino nel circolo di Ermolao Barbaro: il notaio Tommaso Zanetelli, alias Didymus
Zenoteles, copista di codici greci (c.1450–1514) , in: Bellunesi e Feltrini tra umanesimo e rinascimento. Filologia, erudizione e biblioteche, a cura di Paolo Pellegrini, Rom/Padua 2008, S. 75 Anm. 123 (zum philologischen Wert der Handschrift nach Diller).
Verzeichnis der im Katalogisierungsprojekt abgekürzt zitierten Literatur
Inhalt
1) 1r–149v
- Verfasser
- Stephanus Byzantius (GND-Nr.: 100961223).
- Titel
- Ethnica.
- TLG-Nummer
- 4028.003–4028.007.
- Angaben zum Text
- f. 1r–38r Alpha; f. 38r–46r Beta; f. 46r–51r Gamma; f. 51r–56v Delta; f. 56v–63r Εpsilon; f. 63r–64r Zeta; f. 64r–65v Eta; f. 65v–68v Theta; f. 68v–72v Iota; f. 72v–87r Kappa; f. 87r–90v Lambda; f. 90v–100v My; f. 100v–102r Ny; f. 102r Xi; f. 102r–105r Omikron; f. 105r–114r Pi; f. 114r–115v Rho; f. 115v–124v Sigma; f. 124v–134r Tau; f. 134v–136v Ypsilon; f. 136v–141v Phi; f. 141v–146v Chi; f. 146v–147v Psi; f. 147v–149v Omega.
- Titel (Vorlage)
- 1r ἐκ τῶν ἐθνικῶν στεφάνου, κατὰ ἐπιτομὴν. ἀρχὴ τοῦ α.
- Explicit
- 149v … οὕτω τέως εὗρον. τέλος τῶν τοπικῶν στεφάνου +.
- Edition
- Stephani Byzantii Ethnica rec. Germanice vertit indicibus instr. Margarethe Billerbeck, I: Alpha-Gamma, II: Delta-Iota, III: Kappa-Omikron, IV: Pi-Ypsilon, V: Phi-Omega. Indices, Berlin 2006, 2011, 2014, 2016, 2017 (maßgebliche Ausgabe; diese Hs. ist eine der wichtigeren innerhalb der insgesamt erst sehr jungen Stephanus-Überlieferung und trägt hier die Sigle P); Stephani Byzantii Ethnicorum quae supersunt ex rec. Augusti Meinekii, Berlin 1849 (ND Graz 1958; = TLG 4028.001).
- Bearbeitet von
- Dr. Lars Martin Hoffmann, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2021.
Zitierempfehlung:
Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. gr. 57. Beschreibung von: Dr. Lars Martin Hoffmann (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2020.
- Katalogisierungsrichtlinien
- Die Katalogisierungsrichtlinien finden Sie hier.