Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Müller, Michael Christian; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Orgeldenkmalpflege: Grundlagen und Methoden am Beispiel des Landkreises Nienburg/Weser — Hameln: Niemeyer, Heft 29.2003

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.51261#0030
License: Creative Commons - Attribution - ShareAlike
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
orientiert (Abb. 29). So findet man im Hauptwerk einen
Prinzipalchor auf 16'-Basis mit Mixtur. Bemerkenswert
sind aber dennoch die fünf 8’-Register im Hauptwerk,
das neben Gemshorn und Streicher zwei Flötenregister
enthält. Bezeichnend ist bei dieser mit 36 Registern
schon größeren Orgel, dass auch das Oberwerk auf ei-
nem Prinzipal 8‘ aufbaut und seinerseits vier 8'-Register
enthält. In der Summe lassen sich schließlich bereits die
Tendenzen erkennen, das strenge Werkprinzip der nord-
deutschen Orgel zu durchbrechen, denn das Oberwerk
in Herzberg ist bereits in deutlicher Weise als dynamisch
zurückgestuftes Pendant zum Hauptwerk zu erkennen.
Die dahinter stehende und in den folgenden
Jahrzehnten weiter ausdifferenzierte Dispositionsmetho-
de stellt den Pfeifengruppen, die im Hauptwerk als 8‘-
Register enthalten sind, auf dem zweiten Manual vom
Klangcharakter gleichgerichtete, aber in der Lautstärke
bzw. der klanglichen Intensität verhaltenere Register
gegenüber. So „antwortet" zum Beispiel das Salicional
der Viola di Gamba und die Doppelflöte der Hohlflöte.
In Herzberg gilt dies analog für die 4'-Lage, die hier in
bemerkenswerter Weise mit je drei Registern besetzt ist.
Dennoch muss betont werden, dass die klassischen
Dispositionsprinzipien noch nicht aufgelöst, sondern be-
reichert und modifiziert sind.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zur Zeit Max Regers
(1873-1916) und Siegfried Karg-Elerts (1877-1933),
deren Werke auf Orgeln mit einer deutsch-symphoni-
schen bzw. geradezu impressionistischen Klangstruktur


30 Verden, Dom St. Maria und Cäcilia, Orgel

interpretiert werden können,82 hat diese Entwicklung
ihren Höhepunkt erreicht. Die original erhaltene Orgel
im Dom zu Verden (Abb. 30)83 kann als Kronzeugin die-
ser Etappe im Orgelbau bezeichnet werden, lassen sich
an ihr doch sämtliche Aspekte romantischen Orgelbaus,
Klang, Technik, Architektur, detailliert nachvollziehen.
Nachdem schon 1850 durch J. Fr. Schulze aus Paulinzella
eine neue Orgel erbaut worden war, wurde diese 1916
durch einen Neubau der Firma Furtwängler & Hammer
ersetzt - nur der alte Prospekt blieb erhalten. Die
Disposition folgte nun konsequent jenem Prinzip, das
sich in Herzberg vom Ergebnis her angedeutet hatte,
nicht aber von der Idee her gegeben war (Abb. 31).
Denn während in Herzberg noch immer an dem Prinzip
der Klangbildung durch Obertonverstärkung festgehal-
ten wurde, ist dieses hier der Schichtung dynamischer
Strukturen gewichen. „Die Orgel" soll in unserem Zu-
sammenhang nicht in vordergründiger Weise als Imitat
eines Orchesters begriffen werden, wohl aber waren es
die evolutionsdynamisch hochdifferenzierten spätro-
mantischen Orchesterkompositionen, die auch in
Wechselwirkung mit der Orgelmusik standen und mit
dem klanglichen Aufbau der Orgel korrelieren. In logi-
scher Konsequenz finden sich in Verden auf drei Manu-
alen 18 labiale 8'-Register. Sie sind, wie schon für Herz-
berg beschrieben, vom ersten Manual - dem früheren
Hauptwerk - über das zweite zum dritten Manual hin
bezogen auf die Registerfamilien stringent abge-
schwächt. Im dritten Manual ist außerdem eine Schwe-
bung disponiert, die sich auf das leiseste streichende
Register bezieht. Da die Schwebung, die „Vox coele-
stis", in einem so genannten Schwellwerk steht, kann
die Lautstärke bis zum kaum mehr Hörbaren reduziert
werden. Die auch hier vorhandenen Mixturen setzen auf
einer tieferen Fußbasis an und sind maximal vierfach
besetzt. Auch die während der vorigen Jahrhunderte
beliebten kurzbecherigen Zungenregister tauchen hier
nicht mehr auf. Die Zungen haben kaum mehr solisti-
sche Aufgaben, dagegen sollen sie dem Tutti eine letzte
Steigerung geben oder - wie bei Oboe oder Klarinette -
eine gewisse orchestrale Färbung in eine Registrierung
mit 8'- und 4'-Registern bringen.
Die Orgel im Dom zu Verden hat 54 Register. In Relation
zu den barocken Instrumenten der vorigen Jahrhunderte
erscheint dies viel. Betrachtet man aber zum Beispiel die
Orgel im Berliner Dom, die von der Firma Wilhelm Sauer
1905 mit 113 klingenden Registern erbaut worden ist,
wird schnell offensichtlich, dass der technische Apparat
aus Schleifladen und mechanischen Trakturen, wie er in
den vorigen Jahrhunderten eingesetzt wurde, an seine
Grenzen kam.84 Deshalb arbeitete man schon in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Möglichkeiten,
die Spielbarkeit der immer größer werdenden Orgeln -
damit sind auch die Strecken zwischen Spieltisch und
Tonventil gemeint - zu verbessern.

28
 
Annotationen