Zur Situation der Wandmalereirestaurierung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
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unterschiedlichen Ansichten Inhalt der Debatten
waren.302 Vorträge und Diskussionen zur Restaurie-
rungsmethodik speziell von Wandmalereien waren
jedoch nicht an der Tagesordnung. Nur Georg
Hager303 referierte 1903 auf dem vierten Tag für Denk-
malpflege in Erfurt zum Umgang mit Wandmalereien,
wobei er sich auf die Erfahrungen im Bayerischen
Generalkonservatorium unter Hans Haggenmiller304
berief. Hagers Vortrag zeichnete sich besonders da-
durch aus, dass er das Vorgehen bei der Restaurierung
von Wandmalereien in die drei Bereiche Freilegung,
Erhaltung und Wiederherstellung, die er mit „Restau-
ration" gleichsetzte, gliederte. Ein Novum, da zuvor
die beiden erstgenannten Bereiche kaum Erwähnung
gefunden hatten. Hager hatte bereits erkannt, dass
eine gelungene Freilegung das Wichtigste für die
Erhaltung der Malereien war. Er beschrieb die poten-
tiell auftretenden Schwierigkeiten, hervorgerufen
durch die Art der Übertünchung, den Zustand des
Untergrundes und den Erhaltungszustand von Putz
und Malerei und gab Ratschläge zur Methodik des
Freilegens. Als bestgeeignetes Werkzeug empfahl er
„eine messerartig dünne, an der Spitze abgerundete
Stahlklinge an einem Griff", womit die aufliegende
Tünche entfernt werden könne, indem man die
Klinge „zwischen die Malfläche und die darauf geleg-
ten Schichten schiebt"305. Zur vorangehenden Locke-
rung von aufliegenden Tünchen und Putzschichten
empfahl er einen Eisenhammer mit runder Schlagflä-
che, die mit Leder umwickelt werden könne oder
einen Holzhammer. Von der Freilegung mittels Strap-
poverfahren, wobei eine Leinwand mit Kleister auf die
aufliegende Tünche geklebt und mit dieser abgezo-
gen wird, und von der Verwendung von Wurzel-
bürsten riet Hager ab, da diese Methoden zur
Schädigung der Malschicht führten. Versinterte
Kalkschichten könne man unter geeigneten Umstän-
den mit „Flussspatsäure" auflösen und bei sehr dün-
ner Kalktünche diene eine Verstärkung des Kalk-
anstrichs zur Erleichterung der Freilegung. Bei Secco-
malereien, die mit Leimfarbe überstrichen seien, sei
eine schadensfreie Freilegung nur schwer möglich, da
die feuchte Reinigung zum Lösen der häufig schwach
gebundenen Malerei führen könne.
Zu den eigentlichen Erhaltungsmaßnahmen zählte
Hager solche, die dem Schutz und der Konservierung
der Malereien dienten und differenzierte sie in solche,
die die Umgebung der Malerei und solche, die die
Malerei direkt betrafen.306 Es sei auf Entfeuchtung und
Ventilation zu achten, da die Verbesserung der klima-
tischen Verhältnisse für eine Erhaltung der Malerei
große Bedeutung habe. Zu den Erhaltungsmaß-
nahmen für die Malerei selbst zählte er Schließungen
von Rissen mit Kalkmörtel, Hinterfüllungen mit
Zementbrei oder Gips sowie Putzergänzungen, die
dem historischen Verputz in Zusammensetzung und
Oberflächencharakter möglichst nahe kommen soll-
ten. Dass Hager zur Hinterfüllung mit Zement oder
Gips riet, erstaunt, wenn man seinen sonst fortschritt-
lichen Ansatz betrachtet, der die Auswirkungen der
klimatischen Verhältnisse auf die Malereien und die
Übereinstimmung von historischen und neuen
Materialien beinhaltete. Bei ungenügender Bindung
der Farben empfahl Hager eine Festigung mit Kasein-
oder Kalkwasser durch Aufsprühen mit dem Fixier-
rohr. In einzelnen, nicht näher beschriebenen Fällen
könne die Fixierung mit Terpentinöl anzuwenden sein
und bei feuchtem Klima sei nach vollendeter Restau-
rierung ein Schlussüberzug mit Wachs durchzuführen,
wie es bei den romanischen Wandmalereien der
Allerheiligenkapelle in Regensburg geschehen sei.
Die ,Restauration' beinhaltete nach Meinung Hagers
sämtliche Maßnahmen, die zur Klärung des optischen
Eindrucks und zur Verdeutlichung der Aussage vorge-
nommen werden müssten. Wenn er auch zu dem
Schluss kam, dass nach den Maßnahmen zur Erhal-
tung fast immer noch solche zur Wiederherstellung
folgen müssten, war er doch einer der Ersten, der eine
bewusste Trennung der verschiedenen Maßnahmen
vornahm und zu einer individuell auf das Objekt
abgestimmten Vorgehensweise riet.
Hager stellte fest, dass bei der Kompromissfindung
zwischen Wahrung der historischen und künstleri-
schen Werte einerseits und dem Gebrauchswert
andererseits das Endergebnis jedenfalls keine
Neuschöpfung sein sollte: "Als Hauptgrundsatz bei
den Wiederherstellungs- und Ergänzungsarbeiten hat
jedenfalls zu gelten, daß die alten Malereien nicht
derart überarbeitet werden dürfen, daß sie wie neu
erscheinen. ... Der alte Charakter der Malerei muß in
Zeichnung und Farbe sorgfältig erhalten werden."
Hager riet vom „rücksichtslosefn] und gleichmä-
ßige^] Nachziehen der alten Konturen" ab, hielt
zurückhaltende Nachkonturierungen aber für sinnvoll,
um die Lesbarkeit der Darstellungen heraufzusetzen.
„Die größte Sorgfältigkeit ist auch beim Nachretu-
schieren der Farben anzuwenden. An mittelalterlichen
Werken wird ein völliges Decken der Flächen mit
Farbe leicht zur Gefahr einer grellen und neuen
Farbenwirkung führen. ... Ist es ermöglicht, auf
eigentliche Ergänzung der Figuren zu verzichten, so
kann man durch Nachretuschieren des Grundes, auf
dem die Figuren stehen, schon sehr viel gewinnen.
Nehmen wir zum Beispiel an, daß von einer Figur der
Kopf in Zeichnung und Farbe fast völlig verschwun-
den, der alte blaue Malgrund aber noch erhalten ist,
so werden die Umrisse des Kopfes beim Retuschieren
des Hintergrundes sorgfältig ausgespart: ist von der
Zeichnung des Details des Kopfes, der Nase, der
Augen usw. nicht das mindeste mehr zu erkennen, so
wird die ausgesparte Kopffläche lediglich annähernd
in der Fleischfarbe getönt, welche die anderen Köpfe
zeigen. So werden für das Auge auffallende Lücken
beseitigt, die Farbenfläche wird im Gesamteindruck
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unterschiedlichen Ansichten Inhalt der Debatten
waren.302 Vorträge und Diskussionen zur Restaurie-
rungsmethodik speziell von Wandmalereien waren
jedoch nicht an der Tagesordnung. Nur Georg
Hager303 referierte 1903 auf dem vierten Tag für Denk-
malpflege in Erfurt zum Umgang mit Wandmalereien,
wobei er sich auf die Erfahrungen im Bayerischen
Generalkonservatorium unter Hans Haggenmiller304
berief. Hagers Vortrag zeichnete sich besonders da-
durch aus, dass er das Vorgehen bei der Restaurierung
von Wandmalereien in die drei Bereiche Freilegung,
Erhaltung und Wiederherstellung, die er mit „Restau-
ration" gleichsetzte, gliederte. Ein Novum, da zuvor
die beiden erstgenannten Bereiche kaum Erwähnung
gefunden hatten. Hager hatte bereits erkannt, dass
eine gelungene Freilegung das Wichtigste für die
Erhaltung der Malereien war. Er beschrieb die poten-
tiell auftretenden Schwierigkeiten, hervorgerufen
durch die Art der Übertünchung, den Zustand des
Untergrundes und den Erhaltungszustand von Putz
und Malerei und gab Ratschläge zur Methodik des
Freilegens. Als bestgeeignetes Werkzeug empfahl er
„eine messerartig dünne, an der Spitze abgerundete
Stahlklinge an einem Griff", womit die aufliegende
Tünche entfernt werden könne, indem man die
Klinge „zwischen die Malfläche und die darauf geleg-
ten Schichten schiebt"305. Zur vorangehenden Locke-
rung von aufliegenden Tünchen und Putzschichten
empfahl er einen Eisenhammer mit runder Schlagflä-
che, die mit Leder umwickelt werden könne oder
einen Holzhammer. Von der Freilegung mittels Strap-
poverfahren, wobei eine Leinwand mit Kleister auf die
aufliegende Tünche geklebt und mit dieser abgezo-
gen wird, und von der Verwendung von Wurzel-
bürsten riet Hager ab, da diese Methoden zur
Schädigung der Malschicht führten. Versinterte
Kalkschichten könne man unter geeigneten Umstän-
den mit „Flussspatsäure" auflösen und bei sehr dün-
ner Kalktünche diene eine Verstärkung des Kalk-
anstrichs zur Erleichterung der Freilegung. Bei Secco-
malereien, die mit Leimfarbe überstrichen seien, sei
eine schadensfreie Freilegung nur schwer möglich, da
die feuchte Reinigung zum Lösen der häufig schwach
gebundenen Malerei führen könne.
Zu den eigentlichen Erhaltungsmaßnahmen zählte
Hager solche, die dem Schutz und der Konservierung
der Malereien dienten und differenzierte sie in solche,
die die Umgebung der Malerei und solche, die die
Malerei direkt betrafen.306 Es sei auf Entfeuchtung und
Ventilation zu achten, da die Verbesserung der klima-
tischen Verhältnisse für eine Erhaltung der Malerei
große Bedeutung habe. Zu den Erhaltungsmaß-
nahmen für die Malerei selbst zählte er Schließungen
von Rissen mit Kalkmörtel, Hinterfüllungen mit
Zementbrei oder Gips sowie Putzergänzungen, die
dem historischen Verputz in Zusammensetzung und
Oberflächencharakter möglichst nahe kommen soll-
ten. Dass Hager zur Hinterfüllung mit Zement oder
Gips riet, erstaunt, wenn man seinen sonst fortschritt-
lichen Ansatz betrachtet, der die Auswirkungen der
klimatischen Verhältnisse auf die Malereien und die
Übereinstimmung von historischen und neuen
Materialien beinhaltete. Bei ungenügender Bindung
der Farben empfahl Hager eine Festigung mit Kasein-
oder Kalkwasser durch Aufsprühen mit dem Fixier-
rohr. In einzelnen, nicht näher beschriebenen Fällen
könne die Fixierung mit Terpentinöl anzuwenden sein
und bei feuchtem Klima sei nach vollendeter Restau-
rierung ein Schlussüberzug mit Wachs durchzuführen,
wie es bei den romanischen Wandmalereien der
Allerheiligenkapelle in Regensburg geschehen sei.
Die ,Restauration' beinhaltete nach Meinung Hagers
sämtliche Maßnahmen, die zur Klärung des optischen
Eindrucks und zur Verdeutlichung der Aussage vorge-
nommen werden müssten. Wenn er auch zu dem
Schluss kam, dass nach den Maßnahmen zur Erhal-
tung fast immer noch solche zur Wiederherstellung
folgen müssten, war er doch einer der Ersten, der eine
bewusste Trennung der verschiedenen Maßnahmen
vornahm und zu einer individuell auf das Objekt
abgestimmten Vorgehensweise riet.
Hager stellte fest, dass bei der Kompromissfindung
zwischen Wahrung der historischen und künstleri-
schen Werte einerseits und dem Gebrauchswert
andererseits das Endergebnis jedenfalls keine
Neuschöpfung sein sollte: "Als Hauptgrundsatz bei
den Wiederherstellungs- und Ergänzungsarbeiten hat
jedenfalls zu gelten, daß die alten Malereien nicht
derart überarbeitet werden dürfen, daß sie wie neu
erscheinen. ... Der alte Charakter der Malerei muß in
Zeichnung und Farbe sorgfältig erhalten werden."
Hager riet vom „rücksichtslosefn] und gleichmä-
ßige^] Nachziehen der alten Konturen" ab, hielt
zurückhaltende Nachkonturierungen aber für sinnvoll,
um die Lesbarkeit der Darstellungen heraufzusetzen.
„Die größte Sorgfältigkeit ist auch beim Nachretu-
schieren der Farben anzuwenden. An mittelalterlichen
Werken wird ein völliges Decken der Flächen mit
Farbe leicht zur Gefahr einer grellen und neuen
Farbenwirkung führen. ... Ist es ermöglicht, auf
eigentliche Ergänzung der Figuren zu verzichten, so
kann man durch Nachretuschieren des Grundes, auf
dem die Figuren stehen, schon sehr viel gewinnen.
Nehmen wir zum Beispiel an, daß von einer Figur der
Kopf in Zeichnung und Farbe fast völlig verschwun-
den, der alte blaue Malgrund aber noch erhalten ist,
so werden die Umrisse des Kopfes beim Retuschieren
des Hintergrundes sorgfältig ausgespart: ist von der
Zeichnung des Details des Kopfes, der Nase, der
Augen usw. nicht das mindeste mehr zu erkennen, so
wird die ausgesparte Kopffläche lediglich annähernd
in der Fleischfarbe getönt, welche die anderen Köpfe
zeigen. So werden für das Auge auffallende Lücken
beseitigt, die Farbenfläche wird im Gesamteindruck