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Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen

wieder harmonisch wirken, und doch ist in der Zeich-
nung nichts ergänzt worden. ... Ist man genötigt, wei-
terzugehen, so muß die Ergänzung der Zeichnung
zum Beispiel der Details des Kopfes sich sorgfältig den
übrigen Typen der Gemälde anschließen. Der Wieder-
hersteller muß sich nicht nur in den Stil der Zeit, son-
dern auch in den Stil der Gegend und des Meisters
einleben und aus diesem Studium heraus mit größter
Zurückhaltung die Ergänzungen machen."307
Hagers Erläuterungen zeigen eine differenzierte Vor-
gehensweise, abhängig vom Erhaltungszustand, die
aber im Extremfall nicht von Übermalungen absieht.
Ein Nachziehen der Konturen, unter beschriebenen
Umständen gestattet, wertete Hager als Ergänzung
und nicht als Übermalung.
Seine Äußerungen zeigen die Abwendung von rekon-
struierenden Wiederherstellungen und Nachschöp-
fungen, wie noch im 19. Jahrhundert üblich. Stattdes-
sen sollte auch die restaurierte Malerei noch ihren his-
torischen Charakter behalten. Wie weit aber die ma-
lerischen Eingriffe gingen, war vom Einzelfall abhängig.
In Hagers Beschreibungen wird deutlich, dass es An-
fang des 20. Jahrhunderts zu Veränderungen in der
Restaurierungspraxis gekommen war. Wo es sich
nicht um museale Präsentation von Kunst handelte,
galt zwar der fragmentarische Charakter von Wand-
malereien nach der Freilegung noch immer als störend
und die optische Schließung, Erhöhung der Lesbarkeit
und Auffrischung' der Farben als notwendig. Hinzu
kamen aber Gesichtspunkte wie Verantwortung für
das Kunstwerk, Respekt vor den historischen und
künstlerischen Werten und Berücksichtigung des
lokalen Charakters. Hager zog für seine Erläute-
rungen den Bericht der Rheinischen Provinzialkom-
mission für die Denkmalpflege von 1901 heran, in
dem darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es
nicht Ziel sein könne, „die ganze Dekoration in der
Gestalt erscheinen zu lassen, wie sie mutmaßlich
unmittelbar nach ihrer Fertigstellung sich den Blicken
der Beschauer darbot, sondern etwa in der Form, wie
eine alte Wandmalerei bei bester technischer
Ausführung, die nie übermalt oder übertüncht wor-
den wäre, nie durch Wasser oder Wandfeuchtigkeit
gelitten hätte, sich heute zeigen würde."308 Sowohl
das hier genannte Ziel einer Restaurierung als auch
Hagers oben genannte Beschreibung der weiterge-
henden Maßnahmen, die vom Einleben in den Stil der
Zeit, der Gegend und des Künstlers handelten, beton-
ten zwar die Notwendigkeit der Objektivität, Zurück-
haltung und Sensibilität, jedoch ohne sich von dem
Aspekt der künstlerischen Fähigkeit zu distanzieren.
Gleichzeitig tendierten sie zur Vervollständigung des
Fragments in gealtertem Zustand. Jener wurde aber
nicht unbedingt unverändert beibehalten, sondern
angemessen zur Geltung gebracht. Es handelte sich
also vielmehr um eine Inszenierung des Histo-
rischen.309

1921 beschrieb auch Cornelius Gurlitt die Möglichkeit
einer Überarbeitung des Hintergrunds, ohne figürli-
che Darstellungen zu übermalen. Eine Methode, die
gleichermaßen Schauwert und Urkundlichkeit berück-
sichtige: „In den Gewölbezwickeln einer kleinen spät-
mittelalterlichen Stadtkirche fand man Heiligenge-
stalten von statuarischer Haltung. Vieles von ihnen, so
zum Beispiel die Gliederung der Gesichter, war nicht
erhalten. Es wurde lediglich der Grund, der ebenfalls
fleckig zutage getreten war, neu bemalt, einzelne ent-
färbte Stellen ausgefüllt. Der mit dem Augenglase
Bewaffnete sieht vom Boden aus diese Schäden, auf
das Hinsehen mit bloßem Auge erkennt man aus den
Umrissen und den sie teilenden Farbenmassen die
Gestalten in vollständig ausreichendem Maße. Wo sie
fehlten, wurden neue angebracht. Die Kirche er-
scheint in wohltuender Weise geschmückt. Und der
Kunstforscher erkennt leicht, was an den Bildern alt
oder neu sei, da der Maler des Neuen sich nicht die
undankbare Mühe gab, in fremdem Stile zu arbeiten,
sondern seiner Art insofern freien Lauf ließ, als er sich
nur in der Massenverteilung an die alten Vorbilder
hielt."310
Dass auch Gurlitt von denkmalpflegerisch objektiven
Richtlinien abwich, zeigen seine tendenziell anachro-
nistisch erscheinenden Ansichten über die Restau-
rierung von Fresken, die er von den übrigen Wandma-
lereien absetzte: „Freskogemälde ... können durch
geeignete Mittel übermalt, also Bilder, die gelitten
haben, wieder in guten Zustand versetzt werden. ...
Trotzdem sei hier wie überall vor dem Übermalen alter
Bilder gewarnt, durch das diese in ihrem Bestände
verändert werden."311
Gurlitt begründete seine Unterscheidung mit der
Annahme, dass die Freskomalerei in Deutschland erst
seit 1650 gebräuchlich wäre, die Kunstwerke dem-
nach der zeitgenössischen Kunst näher stünden und
dass daher „ihre sachgemäße Erneuerung leichter zu
erreichen" sei. Selbst Gurlitt war also nicht abgeneigt,
eine Wiederherstellung in Betracht zu ziehen, wenn
das oft genannte ,Einfühlen in den Geist der Zeit'
möglich erschien. Genau jenes aber hatte er 1900 als
Entgegnung auf die von Tornow formulierten Grund-
sätze, zumindest für mittelalterliche Kunstwerke, als
unerreichbar hingestellt.312
Alois Riegl zeigte in seinem Aufsatz zur Frage der Res-
taurierung von Wandmalereien 1903 seine Kompro-
missbereitschaft. Er, der grundsätzlich anstrebte, so
wenig konservatorische und restauratorische Maß-
nahmen wie möglich zu ergreifen, gestand weiterge-
henden Restaurierungen in Kirchenräumen eine ge-
wisse Berechtigung zu (vgl. S. 71 ff.). Riegl machte
das Ausmaß der Ergänzungen vom Erhaltungszustand
abhängig und sprach sich bei kleineren Fehlstellen für
unauffällige Ergänzungen im Charakter des „erhalte-
nen Alten"313 aus. Bei stark reduzierter Malerei hinge-
gen befürwortete er die „möglichste Annäherung an
 
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