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MITTEILUNGEN AUS DEM KERAMEIKOS III

wiedergegeben, noch dazu überlebensgross, ein Wesen, das er be-
staunte und verehrte, und das auch wir bestaunen und verehren sol-
len. Hier erst zeigt sich seine volle Meisterschaft. Er ist nicht nur
ein Formenbildner, der uns zwingt, seinem Rhythmus zu folgen,
sondern ein Realist, ein Mann, der ein reales Stück Leben vor uns
hinstellt. Ein Blick auf den Blaubart lehrt wieder, welche Welt,
welche Wirklichkeit hinter unserem Meister steht. Der Meister des
Blaubarts hat sie nicht mehr gekannt, obwohl er noch von ihren
Kräften zehrt; er führt uns in ein anderes Land, das für ihn Neu-
land war. Der Boden, auf dem unser Meister steht, das Wesen, das
er bildet, ist geheimnisvoller, aber darum nicht minder real. Es ist
in höherem Maass ein Geistwesen, oder, wenn man will, ein Geister-
wesen als die Gestalten um den Blaubart und den Kalbträger. Die
Vorstellungswelt des Meisters käme für uns anders Geartete deutlicher
zur Erscheinung, wenn er seine Gestalt als Relieffigur oder als
Gemälde einem Fries einverleibt hätte. Sie würde als Nachbarfiguren
jene Dämonen und Tiere erfordern, mit denen jene Zeit alles verzierte,
was sie bildete; jene Gestalten, die damals nicht nur Raumfüllung
und Zierat waren, sondern Inhalt des Lebens, Gegenstand der Scheu,
Verkörperungen starker Kräfte. Manche von ihnen waren als feste
Gestalten in bestimmte Sagen verwoben worden, wie die Sphinx in
die Ödipussage, die Sirene in die Odyssee, der Löwe in die Herakles-
sage, aber sie hatten ihr Wesen damit nicht erschöpft. Wir treffen
manche dieser Wesen als seelenraffende Dämonen, manche als
Abbilder der Seelen der Toten, und auch hier wieder ist deutlich, dass
der Sinn dieser Wesen damit nicht erschöpft ist. Wenn ionische
Kaufleute der samischen Hera ihren Zehnten in Form einer goldenen
Gorgo und einer silbernen Sirene entrichten, wenn man die Heilig-
tümer des Apollon, der Athena, der Aphrodite mit Sphinx- und
Löwenbildern bevölkert, so hat dies wenig mit Totenkult und
Seelenglauben zu tun. Man weihte der Gottheit eben das Stärkste,
was die Phantasie erfüllte: die dämonischen Wesen und den Mythus.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Frühzeit in Kunst und
Dichtung diese beiden Elemente nicht trennte. An allem Geschehen
hatten die Geister ihren Anteil, als Götter, Dämonen, Totengeister,
Traumgestalten; das Leben jedes Einzelnen war ein starker Geist,
eine konkrete Kraft, sein Θυμός; die Tierwelt, besonders die gefürchtete
der Wildnis, webt überall hinein. Der «Tierfriesstil» ist nicht zu
trennen von dem homerischen Glauben.
Es ist deutlich, dass unser Kopf aus dieser Welt heraus ent-
 
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