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MITTEILUNGEN AUS DEM KERAMEIKOS III
EiN KOPF VOM DIPYLON
(Mit Tafel XXVIII—XXX und Beilage XXIV u. XXV)
Eines der gewaltigsten Werke attischer Kunst ist im Jahre 1916,
mitten im Kriege, bei den Deutschen Ausgrabungen im Kerameikos
ans Licht gekommen, ein überlebensgrosser hocharchaischer Marmor-
kopf. Die vollendete Klarheit der Formen hat noch jeden Betrachter
begeistert. Wäre nur der rückwärtige Teil erhalten, das gross um-
schriebene und edel gegliederte Haar, so wäre schon völlig deutlich:
hier war ein Künstler am Werk, der seine inneren Bilder voll und
rein gestalten konnte; kein tastender Schüler, kein dumpfer Bauer,
kein nachahmender Mann der Provinz, sondern ein Attiker bester
geometrischer Tradition, auf den Höhen monumentaler Gestaltung.
Von derselben Klarheit sind die drei anderen Ansichten des Kopfes.
Grosse klare Flächen bestimmen das Bild: das Rechteck des Ge-
sichtes, die Dreiecke der Wangen, die Spitzovale der Augen, die
Voluten der Ohren antworten den Astragalen des Haares. Dabei ist
kein Versuch gemacht, die Gesichtsteile von einer Mitte aus zu ver-
knüpfen, die Wangen biegen kantig um und führen weit zurück, das
Nackenhaar steht in unerbittlich rechtem Winkel zu ihren Flächen
und jede Einzelform hat ihr unbeschränktes Eigenleben. Das gibt den
Formen eine geheimnisvolle Kraft und dem ganzen Gebilde eine fast
unheimliche Spannung, die gar nicht im Organischen beruht, sondern
vielmehr zum Organischen hinzutritt, seine Äusserung unterbindet,
auseinanderhält. Ein Blick auf den Blaubart (Ath. Mitt. 1922 Tf. 15)
macht das Wesen dieser Spannung deutlich: hier ist sie ins Organische
verlegt, ihr übermenschliches Wesen ist verschwunden.
Kein Zweifel, dass der Meister unseres Kopfes von Maass und
Zahl beherrscht war. Es mag gelingen, einen einfachen Kanon zu
finden, nach dem er seinen Kopf gebaut hat. Aber sicher wird es
unmöglich sein, mit Hilfe dieses Schlüssels das Werk nachzuschaffen,
jene innere Spannung noch einmal zu bilden. Sie ist das Geheimnis
seiner Zeit und seiner Person.
Mit diesen Hinweisen auf die P'ormenwelt des Kopfes ist noch
wenig gesagt. Unser Meister hat ja kein Ornament gemalt, keinen
Teppich gewoben, keinen Pfeiler gestaltet, sondern ein Lebewesen
 
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