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Stegmann, Carl von; Geymüller, Heinrich von; Stegmann, Carl von [Hrsg.]; Geymüller, Heinrich von [Hrsg.]
Die Architektur der Renaissance in Toscana: dargestellt in den hervorragendsten Kirchen, Palästen, Villen und Monumenten nach den Aufnahmen der Gesellschaft San Giorgio in Florenz; nach Meistern und Gegenständen geordnet (Band 7): Raffaelo, Antonio da Sangallo der Jüngere, Baccio d'Agnolo, Rovezzano, Giuliano di Baccio d'Agnolo, Bandinelli, Peruzzi, Vignola, Folfi — München: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.55573#0064
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MICHELAGNOLO BUONARROTI

zu entfernen scheint ihm die Grundbedingung, um zum Höchsten
in der Kunst zu gelangen. Er hat in Worten das als Prinzip
aufgestellt, wozu ihn seine innerste Natur ganz hintrieb: die voll-
ständige Künstlerfreiheit. Vermutlich hoffte er auch hier die
Gesetze des Neuen zu finden.
3) Das Streben nach Überwindung gewollter,
gewählter Schwierigkeiten war ein Mittel mehr, um zu
diesen höchsten Idealen zu gelangen.
4) Die völlige Freiheit der Beherrschung der
Komposition. Die völlige Freiheit der Bewegung, die Fähig-
keit, für jede Idee, jede Vision, jeden Einfall, jedes „concetto“,
für jede affettuosa fantasia eine künstlerische Lösung und
Form zu schaffen, ist das Ideal jedes grossen Meisters. Die Zer-
legung der Gliederungseinheiten in unabhängige kleinere Teile ver-
leiht ihm eine grössere Freiheit der Komposition. Er kann andere
Figurenbilder schaffen, einzelne Teile ausdehnen, betonen, Gegen-
sätze schaffen, Linien unterbrechen und wieder aufnehmen.
Die „DIFFICOLTÄ“ SEINER MANIERA Das un-
aufhörliche Suchen nach neuen Ideen, das Ringen nach neuen
Lösungen schwieriger Probleme hat die Difficoltä seiner Maniera,
sowie das Fehlen der natürlichen Grazia und des Naiven wenn
nicht ganz hervorgerufen, doch sicherlich noch mehr betont und
befremdende Lösungen gefördert.
Kein Wunder, dass Michelangelo genug hatte an den
Schwierigkeiten seiner eigenen Kunst und deshalb nicht heiraten
wollte. Die Last des ,,Nurmännlichen“ ohne die Grazia drückt
oft zentnerschwer.
Hieraus entsteht bei ihm der Charakter des subjektiv Ge-
wollten, des Gespannten, eines unerhörten Könnens im Gegensatz
zum einfach Empfundenen und durch Inspiration Geschenkten.
Erst in den alten Tagen, nach vielen Versuchen, sagt
Michelangelo, gelangt der Weise zum guten Entwurf einer leben-
digen Figur ’)• Ähnlich mochte er auch in der Architektur denken,
und dennoch weist sein erstes erhaltenes Werk genau dieselben
Charaktere auf, die sein letztes zeigt. Spätere betonen neue Prinzipien.
Rätsel und Widersprüche seiner zwei
MISSIONEN UND MÄNGEL IN SEINER KUNST
Es hat Perioden gegeben, wo die Architekten nicht höher schwörten,
als durch Michelangelo; so die Franzosen des „Grand Siede“. In
der heutigen Phase sind sic geneigt in einzelnen Punkten zu streng
gegen ihn zu sein. Mit meinem Confrere Charles Garnier glauben
sie, dass die architektonischen Studien Michelangelos ungenügend
waren, dass er die Sprache der Architektur nicht gelernt hatte,
wohl weil er ein so grosser Maler und Bildhauer war.
Es giebt keinen grösseren Irrtum als diesen. Trotz seiner
Grösse in den Schwesterkünsten kannte er die Architektur bis in ihre
kleinsten Kniffe und im Technischen weit besser, als die meisten da-
maligen Architekten von Fach, Bramante undSangallo ausgenommen.

Die Irrtümer und Mängel, welche diese Idee verursacht,
kommen aus zwei ganz anderen Quellen, als ungenügende
Schulung. Sie bilden eines der schwierigsten Rätsel und führen
zur Frage: Wie konnte ein Meister, der einige der allergrössten
Wunderwerke geschaffen, welche die Kunst je gesehen, andere
Werke hervorbringen, vor deren Mängeln der Verstand still steht?
Die Gründe dieser quälenden Widersprüche werden erst durch
die Erkenntnis klar, dass Michelangelo mit zwei ganz getrennten
Missionen betraut war, denen sozusagen zwei Naturen entsprachen,
die in fortwährendem Kampfe miteinander lagen. Er sollte sein:
erstens ein Schöpfer von Wunderwerken, ein Grossmeister des
erhabensten „Geistes“ in der Kunst — zweitens ein Pionier, „un
chercheur“, ein Forscher nach neuen Formen und Wegen der
Kunst, mit all den Gefahren dieser hohen, schwierigen Mission.
Nur durch diesen Unterschied zwischen dem Werte seiner
Schöpfungen als „Kunstwerke“ und den missglückten Versuchen des
gewaltigen Experimentators, gelingt es einerseits die unaussprechliche
Erhabenheit und unergründliche Tiefe der herrlichen unter seinen
Schöpfungen mit dankbarer Begeisterung voll zu erfassen, die Höhe
seiner künstlerischen Absichten zu erkennen, und andererseits der
Pflicht zu gehorchen, die oft grossen Fehler und Mängel in einer
Anzahl seiner Werke klar zu zeigen, ohne sich gegen die Seelengrösse
und Meisterschaft dieses Grossen unter den Grössten zu versündigen.
Betrachtet man z. B. die Porta Pia bloss vom Stand-
punkt des Schönen in der Kunst, so kann man sie nur hässlich
finden. Vom Standpunkte der Vollkommenheit des Kunstwerkes
betrachtet, sind fast nur Mängel an ihr zu erkennen. Nur als
ein Bestreben der freien Künstlerseele kann sie der denkende
Künstler achten, sich dafür interessieren. Als Vorboten, als Quelle
einer neuen Stilrichtung, mit Prophetenblick muss er sie ansehen.
Wenn er ein erhabenes Kunstwerk schaffen wollte und er
sich in diesem Willen bemeisterte, so schuf er unvergleichliche
Wunderwerke. Wenn er aber bizarr, arrabiato, Extravaganzen
im Neuen zu lösen suchte, gelang es selbst seiner künstlerischen
Titanenmacht nicht, eine künstlerische Lösung und Harmonie zu
finden. Daher auch zerstörte er selber so viele seiner Versuche.
Seine Mängel haben zwei Gründe: die Schwierigkeiten seiner
Mission und die Widersprüche in seinem Charakter.
Seine Mission als pionier und deren
MÄNGEL Die eine Quelle seiner Mängel lag in der mensch-
lichen Unvollkommenheit und in den Schwierigkeiten seiner Mission
als Pionier. „Wer schafft, kann irren,“ Ma chi fa falla, schrieb
Michelangelo, als dem Meister Bernardino 1507 der erste Guss
seiner Statue Julius’ II. in Bologna misslang.
Besser als der feine Künstlerblick seines Schülers, Freundes
und Verehrers Vasari2) kann man die Ursache manches miss-
glückten Werkes, mancher unglücklichen Form nicht treffen.
Seine Künstlerphantasie eines Titanen liess ihn auf Lösungen los-
stürmen, terribili concetti, für die es überhaupt keine künst-

1) Negli anni molti e nelle molte pruove,
Cercando, il saggio al buon concetto arriva
D’un’ immagine viva,
Vicino a morte, in pietra alpestra dura:
C’all’ alte cose e nuove
Tardi si viene, e poco poi si dura.
(Guasti, C., a. a. O. Madrigale II.)

2) Ha avuto l’immaginativa tale e si perfetta, ehe le cose propostosi
nella idea sono state tali, ehe, con le mani per non potere esprimere si grandi
e terribili concetti, ha spesso abandonato l’opere sue, anzi ne ha guasto molte;
come io so ehe, innanzi ehe morissi di poco, abruciö gran numero di disegni,
schizzi, e cartoni fatti di man sua, acciö nessuno vedessi le fatiche durate da
lui ed i modi di tentare l’ingegno suo, per non apparire se non perfetto.
(Vasari VII. 270.)

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