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nehmste. Er ist freilich auch sehr viel bewußter etwa auf das Tun seiner Hände bedacht, der redend erho-
benen Rechten vor der Mantelagraffe und der gesenkten Linken, in deren schmale Finger das ganz dünne
Stäbchen des Szepters genommen ist. Ähnlich ist auch Maria jetzt bis in die in dem Hintereinander ihrer
Finger nur ganz schmal sichtbaren Hände hinein von schlankerer und feinerer Bildung. Die räumlichen
Richtungswerte, Senkrechte, Schräge und Gegenschräge sind in ihr mächtig geworden. Wie sie die Rechte
hebt und das Antlitz mit den gegen den Engel demütig rückwärts gewandten Augen zur Seite neigt, das
alles steht in engstem Zusammenhänge sowohl mit dem Ganzen der Gruppe wie auch mit dem Ganzen
des von dem flächigen Vordergrund her schräg in die Tiefe fluchtenden Raumes.
In dem rechten Flügel des Triptychons, der Darstellung im Tempel, ist der Schauplatz nicht wieder ein
enges Gemach, sondern der Chorraum einer hohen, in romanischen Bauformen errichteten Tempelarchitek-
tur. Die Figuren sind in der gleichen Größe wie die der Verkündigung gegeben, zu den Formen der Architek-
tur ist ihr Maßstab infolgedessen zu groß. Aus dem dunkleren Chorraum im Vordergründe blickt man in
den hell, weit und auch höher sich dehnenden polygonalen Hauptraum mit Triforium und Umgang,
durch dessen wiederum im Dunkel liegenden Vorhalle sich rückwärts schmale Ausblicke ins Freie eröffnen.
Schon der Rogier des Johannesaltars hatte solche gestaffelten Folgen von Räumen verschiedener Helligkeit
darstellen können (Abb. 57).
Die feierlichen Senkrechten dieser Architektur dienen als Stärkung und Wiederklang für die große und
strenge Mantelfigur der Maria, die auf den Stufen des Tempels dem Priester das Kind übergibt. Nicht nur
in der Bildfläche, sondern auch räumlich in der Gestaltengruppe ist ihr die zentrale Stellung gegeben.
Genau gesehen steht sie nicht ganz in der vorderen Raumschicht der Gruppe. Um ein geringes weiter
vorne stehen rechts der Priester, der geneigten Antlitzes und gebeugten Knies die Füße auf die Altar-
stufen setzt, und links die schmale modische Gestalt einer jungen Begleiterin, die, mit der Rechten ihre
Schleppe aufnehmend, das Antlitz wendet und ernsten Auges, am Beschauer vorbei, aus dem Bilde heraus-
blickt. Raumeinwärts sind hinter Maria Joseph und weiter rechts die Köpfe der Prophetin Hannah sowie
zweier Zuschauer, eines Jünglings und eines bärtigen Mannes, zu sehen. Das Kind selber ist das Zentrum
der inneren Gruppe, der dem Altar Zunächststehenden, Marias, des Priesters und der Prophetin.
So die Gestalten im Raume zu disponieren, wäre Rogier ohne das bereits fast ein Jahrzehnt zurück-
liegende Erlebnis italienischer Malerei kaum imstande gewesen. Der niederländische Meister lebte frei-
lich in ganz anderen Vorstellungen des Individuellen, des Individuell-Mannigfaltigen, wogegen bei den
Italienern ein in nordischer Spätgotik nie so begegnender Begriff großer Form steht. Aber ist es nicht
vielleicht auch hier große Form, wie die große Weite und Höhe des Raumes der Gestalt Marias fast in
italienischem Sinn Resonanz gibt.
Zu übersehen ist freilich nicht, wie die Architektur, so eng sie auch mit den Gestalten des Bildes ver-
knüpft ist, mehr Hintergrund für sie ist als Raumgefäß, das sie wirklich in sich fassend umschlösse.
Namentlich auch für die große Mitteltafel mit der Anbetung der Könige gilt dies. Zwar sammelt die
Perspektive des strohgedeckten Stalles in sich alle wesentlichen Tiefenbezüge des Bildes und leitet sie
und damit den Blick gegen die zentrale Region um das Antlitz Marias. Die eigentliche Handlung aber,
das Kommen und Niederknien der Könige, vollzieht sich vor alledem. Auch die sich durch die Enge der
seitlichen Arkade hereindrängenden Gestalten des Gefolges und der Neugierigen sind, obgleich sie aus
der Tiefe nach vorne kommen, mehr Gestalten an diesem Raume als in ihm.
Die Figurengruppierung ist dabei auf ihre Weise durchaus raumbezogen. Indem sie den Bildvorder-
grund räumlich schichtet, gibt sie die Eröffnung für die Tiefenerstreckung des Bildes. Die Hauptgestalt,
Maria, ist aus der vorderen Raumschicht, in welcher vor ihr der alte König kniet und die auch Joseph

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