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2

Das Buch f ü r A l l e.

Liest 1

Dieser letzte Seufzer klang wegwerfend, als ob der
Mann des Lebens überdrüssig sei und von nichts mehr
etwas wissen wolle. Gleichzeitig machte er einige Schritte
auf der alten Via triumphalis, nach dem Forum ro-
manum*) hin, das mit seinen ausgegrabenen Tempel-
ruinen, Basiliken, Sarkophagen und ähnlichen Resten
der alten Welt in einer leichten Senkung vor ihm
lag.
Als er am Titusbogen vorbei ging, blieb der Bettler
wieder stehen und sagte, sich in seiner halb spöttischen,
halb müden und verächtlichen Art mit sich selbst
unterhaltend: „Das Forum romanum! Bah! Dort
fteht die Rednerbühne, wo Cäsar zum Volke redete,
dort der Konkordiatempel, wo der Senat tagte, und
uw die Gesetze gemacht wurden, denen die damals be-
kannte Welt gehorchte. Unsinn! Ueber dieselben Steine,
auf denen ich stehe, wälzten sich die rauschenden Triumph-
züge Konstantin's des Großen, dort stehen die Ruinen
von Nero's goldenem Haus und dort oben die Paläste
von Augustus, Tiberius, Titus und Vespasian-
Aeh! Wenn ich mir für den ganzen Ruhm Roms
zwei Eier kaufen könnte, so wäre mir bis Mittag ge-
holfen. Ich wäre ein gemachter Mann — — bis
Mittag!"
Auf der Straße, die vom Kapitol herunter und am
Forum entlang führt, kam ihm ein Mann ziemlich
schwankenden Schrittes entgegen. Er war gut gekleidet
und mochte nach einer durchschwärmten Nacht nun wohl
seine Behausung aufsuchen. Der Mann trällerte irgend
einen römischen Gassenhauer vor sich hin, hatte den
Cyliuder auf den Hinterkopf geschoben und war offen-
bar in höchst fideler Stimmung.
„Herr," rief ihn der Bettler an, „um des Erlösers
willen, schenken Sie mir einen Soldo."
Mühsam pflanzte sich der Herr, sich mit beiden
Händen auf seinen Spazierstock stützend, vor ihm auf
und sah ihm ziemlich erstaunt in's Gesicht.
„Einen Soldo!" lallte er lachend.
„Ja, Herr, wenn Sie die Güte haben wollten, oder
ein Stück Brod. Ich friere vor Hunger!"
„Nicht möglich!" rief der fidele Herr erstaunt aus.
„So hast Du gar nichts mehr?"
„Nichts, Herr, als das Leben, und Leben will leben!"
„Nichts als das Leben! Das ist wenig. Aber freue
Dich trotzdem. Du bist ein höchst interessanter Bursche.
Ein Mensch, der gar nichts besitzt, ist ebenso interessant
nne ein hundertfacher Millionär. Bei jenem ist man
gespannt, wie er sein Leben erhält, und bei diesem, wie
er sich zu Tode lebt. Also Du kannst Dich freuen!
Du bist ein höchst interessanter Bursche. Hahaha! Ein
interessanter Kerl."
Lachend taumelte der Trunkene weiter.
Stumm stand der alte Mann eine Weile still und
schaute in die Ruinen.
„Meinethalben kann die ganze alte Welt der Teufel
holen und die neue dazu!" sagte er endlich wieder in
seiner gewöhnlichen cpnischen Art. Dann nach einer
Pause fuhr er nachdenklich fort: „Du sollst nicht stehlen,
steht in der Bibel. Eine schöne Sache für den, der
hat, was er braucht, ein feines Exempel aus einem
feinen Kopf. Aber es wird Niemand satt davon, und
wenn der Magen knurrt, so schweigt der Kopf. Fort!
Ich will essen. Ich muß essen!"
Damit wandte er sich in zweifellos nicht besonders
menschenfreundlichen Absichten nach der Via San Teo-
dora. Der alte Mann machte nicht den Eindruck jener
zahllosen Bettlerexistenzen, die im heutigen Rom, auf das
Mitleid gefälliger, gutmüthiger Passanten angewiesen,
nur zu häufig im Elend verkommen und zu Grunde
gehen. Seine Erscheinung, besonders der scharfe, hastige
Blick der dunkeln, in fast abstoßender Weise mit rothen
Rändern umgebenen Augen drückte eher eine ziemlich
energische Lebenskraft aus, die nicht gemacht war „bei
geraden Fingern zu verhungern".
Er mochte früher, in seiner Jugend, ein wilder
Tollkopf gewesen sein, der unbekümmert und sorglos
um die Zukunft in's Leben hineingestürmt war und in-
folge dessen vielleicht mehr Schuld an seiner jetzigen
elenden Lage trug, als er selbst glaubte oder sich ge-
stehen wollte. Und wenn nun durch Elend und Alter
diese ungestüme, wenig überlegende oder wählerische
Lebenskraft etwas gedämpft worden war, so fühlte er-
sieh doch noch stark genug, um sich zu sagen: „So oder
so, aber leben muß ich!" Er war, wie das so häufig
vorkommt, auf dem Punkte angelangt, von wo die
Stufenleiter der menschlichen Existenzen von der Ehr-
lichkeit und Redlichkeit hinabführt in das Dunkel des
Verbrecherthums. Noch war er nicht hinuntergestiegen.
Noch war er ehrlich. Aber die Scheu, es zu thun,
war durch sein verzweifeltes Temperament schon beseitigt.
Es fehlte nur noch die Gelegenheit.
Schon nach einigen Schritten hielt er wieder lau-
schend still. Aus einer Nebenstraße kamen zwei Männer,

*) Das Forum romanum war einst der Marktplatz des
alten Nom, auf dem die politischen und kommerziellen Ge-
schäfte des Staates, soweit sie öffentliche waren, vor sich
gingen.

die sich mit einander unterhielten. Begünstigt durch !
den Wind und die Stille, hörte er schon in großer
Entfernung, was die Beiden sprachen.
„Gnädiger Herr," hörte er die eine Stimme sagen,
„lassen Sie mich Sie begleiten. Ich habe die ganze
Nacht nicht schlafen können, denn ich merkte schon gestern
Abend, als Sie mir befahlen, Ihre Pistolen zu reinigen
und zurecht zu legen und Sie um fünf Uhr zu wecken,
daß Sie ein gefährliches Zusammentreffen vor sich
hatten —"
„Du bist ein Esel, Francesco, mit Deinem ewigen
Zittern und Zagen," antwortete eine andere Stimme,
die vornehm, weich und schön, aber doch auch wie von
innerer Erregung etwas zitternd durch die Stille klang.
„Was soll mir denn passiren, wenn es mir ge-
fällt, draußen in der Campagna nach Wachteln zu
schießen?"
„Mit Pistolen? Herr Graf, ich bin ein alter Mann.
Seit zweiundvierzig Jahren gehe ich im Palazzo d'Ar-
tignano als Diener aus und ein, aber noch in keiner
Stunde ist mir so bang gewesen, wie in dieser. Ich
möchte darauf schwören, daß ein Unglück in der Luft
liegt."
„Du hast schlecht geschlafen. Das ist Alles."
„Ja, das weiß Äott, und Sie, Herr Graf, Sie
schliefen so gesund, so schön, als ich Sie wecken mußte,
wie in Abraham's Schoß. Und ich mußte Sie doch
wecken! Ich mußte. Sie hatten es befohlen. Nie ist
mir der Gehorsam so schwer geworden, als heute Morgen.
Und nun lassen Sie mich zum Dank dafür Sie be-
gleiten. Vielleicht bedürfen Sie meiner doch."
„Ich bedarf Deiner bis zum Wagen, der in der
Via de' Cerchi hält. Dort gibst Du mir den Pistolen-
kasten und gehst wieder heim. Mein Vater darf nichts
davon hören. Verstehst Du?"
„Mein Gott, mein Gott, Ihr Vater, der alte Herr-
Graf!" jammerte der Diener weiter. „Wenn Sie an
ihn denken, gnädiger Herr, müßten Sie eigentlich so-
fort umkehren. Wenn Ihnen etwas passirt, Herr Graf
— es wäre sein Tod."
„Francesco, nun habe ich es aber satt. Es wird
mir nichts passiren, sondern ich werde noch vor acht Uhr
wieder zu Hause sein, ehe mein Vater sein Bett ver-
läßt," erwiederte der junge Herr ziemlich hitzig. Dann
aber fuhr er etwas leiser und zögernd fort: „Und
wenn — wenn ich nicht kommen sollte, Francesco, so
weißt Du, was Du zu thun hast. Wenn — wenn
ich bis zehn Uhr nicht da sein sollte — aber das wird
bestimmt nicht eintreten — sondern ich sage es nur für
den Fall, daß ich vielleicht eine kleine Zerstreuung
unterwegs finde, dann gibst Du ihm den Brief,
der auf meinem Schreibtisch liegt. Verstanden, Fran-
cesco?"
„Ach, daß Gott sich erbarme, Herr Graf, eine kleine
Zerstreuung mit der Pistole in der Hand —"
„Du bist ein Kind. Es handelt sich um eine Uebung,
nichts weiter. Und nun geh', Francesco. Dort unten
seh' ich den Wagen halten, und auch Don Pasquale
wartet schon auf mich. Du siehst also, daß ich nicht
allein bin. Gib mir den Kasten."
„Gnädiger Herr!" bettelte der Diener nochmals.
„Wirst Du gehorchen?" fuhr ihn sein Herr an.
Dem alten Diener standen die Thränen in den
Augen, und seine Hände zitterten leicht, als er seinem
jungen Herrn das elegante, mit Silber und Elfenbein
ausgelegte Pistolenkäftchen reichte.
In diesem Augenblick hinkte der lahme Bettler auf
die Beiden zu.
„Um Christi nullen, einen Soldo, Herr! Ich sterbe
vor Hunger," sagte er und hielt seinen alten, fettigen
Filz hin?
Der junge Graf, eine hübsche, sympathische Erschei-
nung, griff rasch in die Tasche und suchte nach einer
Münze. Aber er hatte in der Zerstreuung kein Geld
zu sich gesteckt.
„Gib dem Mann, Francesco," sagte er zu seinem
Diener.
Francesco sah den Lahmen flüchtig an und griff
dann in die Tasche.
„Kannst Du wechseln?" fragte er. „Ich habe unr-
eine ganze Lira."
„Wechseln! Ich?" antwortete der Bettler mit einem
fast drolligen Staunen. „Du lieber Himmel, ich bin
so arm wie Hiob."
„Ei, so gib ihm die Lira," sagte der junge Herr-
kurz, und sein Diener that es.
„Und nun geh. Addio, Francesco."
Damit wandte sich der junge Graf d'Artignano ab,
um allein nach einem Wagen zu gehen, der in der That
an der Ecke der Via San Teodora und der Via de'
Cerchi dicht bei der Kirche S. Anastasia hielt und auf ihn
zu warten schien. Er hatte den Bettler nicht weiter be-
achtet und infolgedessen auch den wunderlichen dankbaren
Blick nicht bemerkt, mit dem dieser ihn in seiner sprach-
losen Ueberraschung über ein so reiches Geschenk be-
dachte. Er konnte ja von dem Geldstück vier Tage
leben! Seit lange hatte er eine solche Summe nicht
besessen.

„Zoppo l"*) hörte sich der Bettler, der noch ganz
versunken in sein Glück schien, plötzlich angerufen.
„Was befehlen Sie, Herr?" antwortete der Bettler.
„Lauf' ihm nach. Du hast doch Zeit?"
„Ach Gott! Wenn ich so viel Geld hätte, als
Zeit —"
„Nun, so lauf' ihm nur nach und sieh zu, ob kein
Unglück geschieht. Passirt ihm aber doch etwas
Schlimmes, so thue Dein Möglichstes. Es soll Dein
Schaden nicht sein. Hörst Du? Ein gutes Frühstück
ist Dir sicher, wenn Du im Palazzo d'Artignano nach
mir fragst. Francesco heiße ich. Willst Du?"
„Ob ich will!" antwortete Zoppo und hinkte mit
einer überraschenden Gelenkigkeit und Schnelligkeit
davon.
„Laß ihn nicht aus den Augen und biete Alles
auf, wenn er Deiner bedarf," rief ihm Francesco noch
eifrig nach.
„Nur ruhig, nur ruhig," murmelte der Lahme halb
für sich und humpelte hinter dem jungen Kavalier her.

ZUveiLes Kcrpitel'.
Graf Alessandro d'Artignano war wenige Wochen
über siebenundzwanzig Jahre alt. Aus einer ebenso
alten wie reichen und angesehenen Familie stammend,
war er selbst ein junger Mann von feiner, liebens-
würdiger Bildung, körperlich und geistig mit jener
Vornehmheit ausgestattet, die so häufig das Merkmal
altadeliger Abstammung ist und seiner Person eine
gewisse Erhabenheit über seine Umgebung verlieh. Er
war ein hübscher Mann, frisch, lebhaft und gesellig.
In seiner Unterhaltung übte er besonders aus den
weiblichen Theil seiner Bekanntschaft einen faszinirenden
Zauber aus, und mancher römischen Schönen hatten
seine großen, schwarzen Augen, die so süße schwärme-
rische Blicke werfen konnten, schon verliebte Seufzer-
entlockt, bisher aber ohne jeden Erfolg. So heiter und
lebenslustig Graf Alessandro das Leben sonst nahm,
im Punkte der Ehe dachte er sehr ernst.
Seine Familie war durch unglückliche Heirathen
schon mehrfach in tragische und traurige Vorfälle ver-
wickelt worden. Sein eigener Vater hatte zweimal
geheirathet und beide Male unglücklich. Seine erste
Frau, die Mutter Alessandro's, war eine junge Rö-
merin aus vornehmer Familie, die starb, als sie ihren:
Sohne das Leben gab; seine zweite Frau war eine
Schauspielerin gewesen. Eine junge, mit großer, hin-
reißender Schönheit begabte Bretterheldin hatte es ver-
standen, den alten Grafen Tito in ihre Fesseln zu
schlagen, und er hatte sie geheirathet. Sie war die
Mutter von Alessandro's Stiefbruder Severo, der drei
Jahre jünger war als er.
Leider hatte sich die Mutter Severo's nicht der
Ehre würdig gezeigt, die man ihr angethan hatte.
Graf Alessandro mußte nicht genau, was eigentlich
zwischen seinem Vater und dessen zweiter Frau Alles
vorgefallen war. Er war damals noch ein Kind ge-
wesen, und jetzt war es streng verpönt, im Palazzo
d'Artignano von dieser Sache zu sprechen. Nur das
wußte Graf Alessandro, daß seine zweite Mutter unter
Aberkennung der Rechte, den Namen d'Artignano weiter-
zuführen, schon nach wenigen Jahren wieder von seinem
Vater getrennt worden war. Sie lebte angeblich in
Florenz von einer kleinen Rente, die ihr sein Vater
regelmäßig monatlich auszahlen ließ.
„Don Pasquale!" rief Graf Alessandro einen älteren
Herrn an, der wartend vor dem Wagen auf und ab
ging.
„Sie sind es, Herr Graf? Steigen Sw em. Ich
meine, wir sind etwas spät daran," antwortete Jener.
„Ich bin unglücklich, daß Sie auf mich haben warten
müssen, mein Lieber, aber ich hoffe, wir kommen wohl
zur Zeit an. Der Kutscher mag sich nur etwas tum-
meln."
Die beiden Herren stiegen ein, und der Wagen
fuhr rasch davon, aber nicht, ohne daß es dem Zoppo
gelungen wäre, sich als blinder Passagier hinten aus-
zusetzen. Er saß unbequem, miserabel; der Staub flog
ihm in dichten Wolken um die Nase, aber er saß, und
das genügte ihm vorläufig.
Der Wagen rollte rasch die Via de' Cerchi entlang
und verließ durch die Porta S. Sebastiano die Stadt.
„Sie werden natürlich begierig sein, mein lieber Don
Pasquale, von mir die Ursache dieser unliebsamen Stö-
rung Ihres Morgenschlummers zu erfahren," begann
Graf Alessandro, als er im Wagen Platz genommen
hatte.
„Selbstverständlich," antwortete dieser ernst. „Ich
möchte um so mehr wissen, um was es sich handelt,
als ich in meiner Stellung als Rechtsanwalt genöthigt
bin, mir die Konsequenzen meiner Handlungen vorher
zu überlegen."
*) Zoppo heißt „der Lahme". Da es die Italiener sehr
lieben, gewissen Leuten je nach ihren Aeußerlichkeiten Spitz-
namen zu geben, so werden die Betroffenen unter diesen
! Spitznamen oft stadtbekannt, während ihren eigentlichen
I Namen Niemand kennt.
 
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