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52

Das Buch für Alle.

Hrft 2.

Natürlich fertigen nur auch nach Maß in dieser Schnei-
derei Kostüme an, und die Käuferinnen bei uns brauchen
dann nur die Modelle, auszusuchen und den Stoff zu
bestimmen, um spätestens in 36 Stunden ein vollständiges
Kostüm nach Maß nngefertigt zu erhalten.
Wir wollen jetzt gleich den anderen Rayon aussuchen,
welcher als eine Abzweigung des ersten zu betrachten
ist, und welcher Blusen und Morgenröcke umfaßt. Hier
zeigt sich deutlicher als in der Hauptkonfektion die Be-
deutung der Wollen- und Seidenstoffe, die für diese
Blusen verwendet werden. Hier werden Sie begreifen,
wie wichtig es für uns ist, schon in der Farbe gewisser-
maßen den zukünftigen Geschmack unserer Kundinnen
vorauszuahnen. Die Formen der Blusen und Morgen-
röcke werden in Paris, aber
auch in Wien bestimmt;
auch London liefert manch-
mal neue Erfindungen auf
diesem Gebiete, und es ist
Sache des Rayonchefs, sich
mit diesen Neuerungen so
früh als möglich bekannt zu
machen, ebenfalls Modelle
Herstellen zu lassen und mög-
lichst viele Neuigkeiten für
den Einzelverkauf vorzu-
bereiten."
„ Finden die Rayonchefs"
— so erlauben nur uns zu
fragen — „nicht eine ge-
wisse Unterstützung durch
die Muster- und Modezei¬
tungen, die erscheinen?
Bringen diese nicht auch
Neuigkeiten, welche sich ver-
wenden lassen?"
Der Direktor lächelt.
„Im Gegentheil!" erklärt
er, „die Neuster- und Mode-
zeitungen bekommen ihre
Bilder von Neuigkeiten erst
aus den großen Modeba-
zaren, großen Geschäften un-
seres Genres. Diese ge-
statten den Zeichnern der
Modezeitungen, im Lager
neue Modelle abzuzeichnen;
und in den meisten großen
Zeitungen finden Sie jetzt
sogar bei einem neuen Mo-
dell angegeben, aus welchem
Geschäft dasselbe stammt.
Nein, wir haben für die
Vorbereitung zur Saison
durchaus keine Hilfe an den
Modezeitungen. Wir haben
wohl ein paar Fachblätter,
welche sich indeß durchaus
nicht mit der Mode be-
fassen. , Diese festzustellen
ist lediglich Sache der Ra-
yonchefs und der gemein-
samen Arbeit der Geschäfts-
leitung mit den Fabri-
kanten.
Wenn wir bei den Be-
kleidungsgegenständen blei¬
ben, so kommen wir jetzt
zur Herrengarderobe. Maß-
gebend für dieselbe ist Lon-
don; Wien erst in zweiter
Linie und mehr für Extra-
vaganzen. Ich brauche Sie
nur an die jetzt noch immer
existirenden,Gigerln' zu er-
innern, welche eine absolut
wienerische Erfindung sind.
Die neuen Modelle für Her¬
renmäntel, Jaketts, Röcke,
Beinkleider, Westen holen
unsere Rayonchefs sich aus London und aus Wien. Hier
leisten auch die Fachzeitungen werthvolle Dienste, zu-
mal einzelne große Versammlungen von Herrenkon-
fektionären kurz vor der Saison sich über die neuesten
Moden wenigstens einigermaßen in Konferenzen zu
einigen pflegen. Was die Farbe der Stoffe für die
Herrengarderobe anbelangt, so haben wir die größte
Unterstützung an den Fabrikanten von Tuch, Kamm-
garn und anderen Stoffen, welche selbst eifrig fort-
während neue Muster erfinden und uns gewöhnlich die
fertige Musterkollektion für die Saison zur Auswahl
vorlegen.
Einen besonderen Rayon bildet die Kindergarderobe,
in welcher ja, wie Sie wissen, auch ganz bedeutende
Schwankungei: der Mode zu verzeichnen sind. Bald
sind für Knaben, wie jetzt, Sportanzüge beliebt, bald
für Mädchen Kostüme nach dem Vorbild der Zeichnungen
von Kate Greenaway. Durch die französisch-russische

Freundschaft ist man z. B. seinerzeit in Paris auf den
Gedanken gekommen, die Kinder in russische Kostüme
zu stecken, und die Kindergarderobe für Mädchen und
Knaben ist der russischen Bauerntracht nachgeahmt worden.
Für Kindergarderobe ist neben Paris auch London und
Wien maßgebend. Da die weitaus größte Zahl von
Müttern und Vätern, welche für ihre Kinder bei uns
Garderobe kaufen, weniger darauf sieht, etwas Be-
sonderes, als etwas Praktisches und Haltbares zu be-
kommen, so ist im Allgemeinen der Rayon der Kinder-
garderobe in Bezug auf Mode ziemlich stabil, und unr-
eine oder zwei Neuheiten müssen wir jährlich heraus-
bringen, sollen wir nicht gegen unsere Konkurrenz zurück-
bleiben.

Sehr interessant für die Damen ist der nächste Rayon,
der für Hüte und Putz. Diese Moden entstehen in
Paris, aber auch in Wien. Wir haben sogar in der
Putzmncherei zwei streng geschiedene Moderichtungen, die
Pariser und die Wiener; und während z. B. Deutsch-
land das gemischte System hat und beiden Moderich-
tungen folgt, liebt man in England mehr die Wiener
Mode, und in Nordamerika wieder mehr die französische.
Hüte und Putzsachen arbeiten wir nicht für das Aus-
land, nur für Deutschland. In den ersten Tagen des
März finden sich bei uns Hunderte von Putzmacherinnen
aus allen Theilen des Reiches ein, welche Modelle
kaufen oder sich über die neusten Moden unterrichten
wollen. Wir kaufen Modellhüte aus Paris, Wien,
aber auch aus London; denn die Londoner Damen
pflegen gerade in der Erfindung von Kopfbedeckungen
ein besonderes Talent zu entwickeln. Dann beeinflußt
auch der Sport in England die Kopfbedeckung der Damen,

und wir müssen davon hier Notiz nehmen. Die Haupt-
sache bleibt aber immerhin die Verwendung der aus-
ländischen Modelle durch unsere Direktrizen und unsere
Gehilfinnen. Die Farbe der Hüte und der Putzgegen-
stände richtet sich nach der Modefarbe der Kleider. Für
die Formgebung läßt sich keine Norm angeben. Das
Extravaganteste ist oft an: beliebtesten, und nur alle
zwei, drei Jahre macht die Mode einmal einen Sprung,
indem sie plötzlich das Kapotehütchen vorschreibt, um dann
sofort wieder zu großen, runden Hüten, zu sogenannten
,Schuten' überzugehen. Ebenso ist es ganz willkürlich,
ob als Garnirung für die Hüte Federbälge, künstliche
Blumen oder nur Bandschleifen verwendet werden. Für-
viel länger, als für ein halbes Jahr, lassen sich die
Moden nicht in: Voraus
feststellen, und deshalb lassen
wir uns mit diesen: Artikel
nicht auf Ausfuhrgeschäfte
ein. Ueber die zu Hüten
verwendeten Bänder' und
Spitzen werden nur noch
etwas Näheres bei der Ab-
teilung Hhantasiewaaren'
erfahren.
Die Abtheilung für
Handschuhe ist sehr um-
fangreich, hat großen Ab-
satz, und doch birgt sie für
ein großes Geschäft eine ge-
wisse Gefahr. Die. maß-
gebende Weltstadt für Le-
derhandschuhe ist Grenoble,
für solche aus Seide und
Wolle Chemnitz. Dort wer-
de:: auch die neuen Muster
erfunden. Wir gehen bei
der Handfchuhfabrikation
mit den Fabrikanten Hand
in Hand. Sind Kleider
mit kurzen Aermeln Mode,
dann werden lange Hand-
schuhe getragen, und trügt
man lange Aermel an den
Kleidern, so sind kurze
Handschuhe modern. Es
gab eine wahre Revolution
auf dem Gebiet der Hand-
schuhfabrikation, als plötz-
lich die Mode von kurzen
Aermeln zu langen über-
ging. Viele taufend Paar-
Handschuhe hatten die Fa-
brikanten noch auf Lager,
die nach der damaligen
Mode sieben bis acht Knöpfe
hatten, und diese Hand-
schuhe wurden mit einen:
Schlag unmodern. Das
bedeutet fast eine Art Krise
in: Handschuhgeschäft und
schädigt manche Fabrikanten
ganz empfindlich. Die Farbe
der Handschuhe wird ja na-
türlich auch durch die Mode-
farbe der Kleidung be-
stimmt. Muster erfinden
die Fabrikanten selbst; sie
verlangen von uns nur,
daß nur unsere Bestellung
ein halbes Jahr vor der
Saison aufgeben, und na-
türlich bestellen nur nur
grosweife, also 144 Paar
von einer Sorte. Da die
Handschuhnummern um ein
Viertel und selbst um ein
Achtel bei Damenhand-
schuhen variiren, können Sie
sich denken, welche kolossale::
Mengen von Handschuhen
wir auf Lager haben und wie froh wir find, wenn im
Laufe der Saisou nicht nur das Lager geräumt wird,
sondern auch noch Nachbestellungen nöthig werden, um
den Wünschen unserer Kunden zu genügen.
Auch der Rayon Schirine für Herren und Damen
bietet viel mehr Schmierigkeiten, als wohl der Laie
glaubt. Paris und Wien sind für uns die maßgebenden
Städte, und zwar Paris speziell für die Form des
Schirmes, Wien, in letzter Zeit auch Berlin, für die
Form des Schirmgriffes und Stockes. Die Farbe der
Schirme wird wieder durch die Kleiderfarbe bestimmt.
Paris aber hat zu dekretiren, ob die Schirme mit Spitzen
aus durchbrochenem Stoff oder aus anderem Material
getragen werden; Paris bestimmt, ob die Form rund,
viereckig oder achteckig sein soll, und in Wien erfindet
man die oft barocken, sehr oft aber auch künstlerisch-
schönen Schiringriffe und Schirmstöcke. Berlin endlich
kann sich rühmen, die Fabrikation solcher Schirmstöcke


Gin Wertrauensbruch, Nach einem Gemälde von M. Wunsch. (S. 50)
 
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