Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
58

Das Buch für Alle.

Hest 3.

das Zimmer, indem er bemerkte, die Frau Grästn unten
erwarten zu wollen.
„Assunta," sagte Frau Maria, als Alsossi das
Zimmer verlassen hatte, „Du kannst doch lesen und
schreiben?"
Ihr Ton hatte etwas Gutmüthiges, etwas mütter-
lich Sorgendes. Aber Assunta kam trotzdem in eine
leichte Verlegenheit. An das, woran die Frau Gräfin
zu denken schien, hatte sie doch noch nicht gedacht.
„Ich kann alles Gedruckte lesen, gnädige Frau
Gräfin," antwortete sie schüchtern, „aber-aber
schreiben kann ich nur die Zahlen."
„Ich dachte es. Die Zahlen lernen sie Alle schreiben,
um in's Lotto setzen zu können. Aber, Assunta, mein
süßes Kind, Du wirst doch einsehen, daß das für eine
feine Dame, für die Frau meines Sohnes nicht genügt.
Eine Gräfin d'Artignano raus; hin und wieder auch
einmal einen Brief zu schreiben wissen oder einen solchen
lesen. Das geht nun einmal nicht anders. Du würdest
sonst Dich und die ganze Familie blamiren. Ist das
nicht richtig, Frau Lovatti?"
Die Gemüsehändlerin konnte nicht umhin, das zu
bestätigen.
„Und dann," fuhr Frau Maria noch immer in
einein wohlwollenden, bemutternden Tone fort, „braucht
eine Gräfin d'Artignano so mancherlei Kenntnisse und
Fähigkeiten, die ich bei Dir nicht so ohne Weiteres
voraussetzen darf. Sie muß über Literatur und Theater
zu sprechen wissen, sie muß Französisch verstehen und
sich in Gesellschaft frei und ungenirt, oder wie mail
sagt: standesgemäß zu bewegen wissen. Ohne dies gibt's
nie und nimmer eine Gräfin, Assunta, und Du bleibst
immer und ewig, was Du bist. Verstehst Du, was
ich meine?"
Assunta war etwas entnüchtert. Sie hatte sich die
Karriere einer verwunschenen Prinzessin nicht so kom-
plizirt gedacht.
„Frau Gräfin," sagte sie, „ich verstehe Sie wohl,
aber wie soll ich Alles das auf einmal lernen?"
„Nun, Alles auf einmal brauchst Du auch nicht zu
lernen, aber nach und nach, und damit Du das kannst,
will ich gern meine Hand bieten, wenn ich mich in
dieser Beziehung mit Deiner Mutter einigen kann. —
Frau Lovatti," wandte sie sich dann zu dieser, „Sie
sehen wohl ein, daß Assunta vor allen Dingen einer
gewissen Erziehung bedarf. Nicht wahr?"
Frau Lovatti war etwas verdutzt. Was weiß eine
Gemüsehändlerin in Rom von Erziehung! Gleichwohl
wollte sie sich nicht für so unwissend halten lassen, als
sie war. Auch glaubte sie, daß das, ums die Frau
Gräfin Erziehung nannte, nicht von Uebel für Assunta
sein könne, und deshalb sagte sie, daß sie wohl einsehe,
daß das Kind der Erziehung bedürfe.
„Nun, das freut mich," entgegnete Frau Marin
wohlwollend, „denn das ist mir ein Zeichen, daß nur
uns verständigen werden. Sie werden auch einsehen,
Frau Lovatti, daß der ungehinderte freie Verkehr unserer
Kinder nicht ohne Weiteres .statthaft oder wünschens-
werth ist. Wenigstens jetzt noch nicht."
Das lag dem Verständnis der Frau Lovatti schon
näher, und sie nickte deshalb eifrig Zustimmung. Neber-
Haupt fand sie, daß die Frau Gräfin eine durchaus
verständige, wohlwollende und vornehme Frau sei, die
den Nagel immer auf den Kopf treffe, der man des-
halb vertrauen dürfe, auch wenn man sie nicht sofort
begriffe.
„Nun höre-n Sie weiter, Frau Lovatti, und auch
Du, Assunta, was ich mir ausgedacht habe, um all'
diesen Unzulänglichkeiten ein Ende zu machen," fuhr
Frau Maria wieder fort. „Ich kenne nicht weit von
hier einige Schwestern vom heiligen Kreuz, die eine
Erziehungsanstalt für junge Mädchen besserer Stände
haben und sehr zuverlässig und sehr vertrauenswürdig
sind. Ihre Anstalt ist gut eingerichtet, gesund gelegen
und mit Allem versehen, was nöthig ist. Dahin be-
absichtige ich Assunta zu bringen, um ihre Erziehung
vollenden zu lassen. Sind Sie damit zufrieden? Selbst-
verständlich bezahle ich alle entstehenden Kosten und
würde auch Assunta so ausrüsten, daß sie schon morgen
in die Anstalt eintreten könnte, aber ich würde zwei
Bedingungen stellen."
„Zwei Bedingungen?" fragte Frau Lovatti.
„Ja," antwortete Frau Maria, indem sie Assunta
wieder in der ihr eigentümlichen stürmischen Art an
sich zog. „Nicht wahr, mein Kind, Du zweifelst nicht
daran, daß ich es gut mit Dir meine?"
„Frau Gräfin —" stotterte das junge Mädchen,
das nicht recht wußte, was es fügen sollte und viel-
mehr begierig war, zu hören, was diese sagen würde.
„Mein Gotk, würde ich sonst hierherkommen? Würde
ich all' diese Ausgaben machen für Deine Erziehung,
all' diese Verantwortung auf mich nehmen? Denn Du
bist wohl überzeugt davon, daß es ohne eine gewisse
Bildung, die Du Dir aneignen mußt, durchaus un-
möglich ist, daß Du in die vornehme Welt eintreten
kannst? Wenn Dir Severo von dieser unbedingten
Notwendigkeit bisher noch nicht gesprochen hat, und
Dir die ganze Sache etwas überraschend kommt, so

liegt das daran, daß Severo, wenn er bei Dir ist,
ganz andere Geschichten im Kopfe haben wird, als dies.
Nichtsdestoweniger ist es aber erforderlich. Frage nur
Deine Mutter, ob es nicht durchaus und unbedingt
notwendig ist. Sie kennt die Welt. Sie weiß, was
sich gehört. Es ist so notwendig, daß Du nie, nie
in diesen: Leben die Frau Severo's werden kannst ohne
dies. Bei meiner Seele! Glaubst Du nun, was ich
sage?".
Bei dieser mit ziemlicher Heftigkeit gestellten Alter-
native begriff sowohl Frau Lovatti wie Assunta sehr-
rasch, was notwendig sei, um zu dem erwünschten Ziel
zu gelangen. Sie waren Beide in ihrer Art schlau
und berechnend und nahmen die Hilfe, die ihnen hier-
offenbar angetragen wurde, unbesehen an. Nur machten
die „Bedingungen", von denen Frau Maria gesprochen
hatte, der Frau Lovatti noch Bedenken, und sie fragte
deshalb noch einmal, was das für Bedingungen seien.
„Mein Gott," antwortete Frau Maria, „die eigen-
tümlichen Verhältnisse, in denen ich mit meinem Ge-
mahl lebe, — wir leben getrennt, wie Sie wohl wissen
oder auch nicht wissen; es ist ganz gleichgiltig — kurz,
diese Verhältnisse zwingen mich, gewisse Vorsichtsmaß-
regeln zu treffen. Sie werden sich gleich selbst über-
zeugen, meine liebe Frau Lovatti, wie sehr dieselben
auch in Ihrem Interesse, oder doch im Interesse
Assunta's liegen. Glauben Sie nicht, daß es so leicht
sein wird, den alten Graf Tito zur Einwilligung in
diese Ehe zu bewegen. Ich aber null das Glück mei-
nes Sohnes, und da ich die Ueberzeugung habe, daß
er Assunta aufrichtig liebt, und daß diese Ehe ihn glück-
lich machen wird, so suche ich dieselbe herbeizuführen.
Dazu ist aber nöthig, daß mir Assunta auf einige Zeit
vollständig anvertraut wird. Das ist die eine Be-
dingung! Es darf, wenigstens für die allernächste Zeit,
Niemand wissen, wo Assunta sich befindet."
„Aber—" warf Frau Lovatti bedenklich ein.
„Selbstverständlich, liebe Frau Lovatti," fuhr die
Sizilianerin mit ihrer schlauen Beredtsamkeit fort,
„werden Sie Gelegenheit haben, sich zu überzeugen, daß
Assunta gut und unter guten Leuten aufgehoben ist.
Ich selbst werde Sie in die Anstalt der Schwestern
zum heiligen Kreuz hinausführen. Sie sollen sich dort
mit Ihren eigenen Augen überzeugen, daß Alles in
schöner Ordnung ist. Nur wird das Abends geschehen,
und Sie werden nicht sehen, wo die Anstalt ist, noch
wie sie heißt. Ich verlange Ihr Vertrauen. Wollen
Sie mir das gewähren?"
„Wenn sich die Frau Gräfin dafür verbürgen, daß
Alles gut wird —" wandte Frau Lovatti ein.
„Aber deshalb geschieht es ja, meine Liebe. Glau-
ben Sie mir doch, daß ich nichts Anderes will. Meine
zweite Bedingung wird Sie noch weiter davon über-
zeugen. Ich bedinge nämlich weiter, daß Sie selbst
meinem Sohne nicht sagen, wo Assunta ist, ihm auch
keinerlei Andeutungen darüber machen. Sie sind eine
Frau, meine Liebe, Sie werden sofort sehen, was ich
damit bezwecke. Ich wünsche nicht, daß das Verhältnis;
der jungen Leute durch unbeschränkte Freiheit des Ver-
kehrs zu üblem Gerede Anlaß bieten kann. Ich wünsche
vielmehr, daß Sie Severo statt an Assunta, an mich
weisen, damit ich in mütterlicher Einsicht diesen Ver-
kehr regeln und überwachen kann. Nur in dieser Weise
kann ich dafür stehen, daß Alles gut wird. Ich sollte
meinen, nichts wäre klarer und leichter zu verstehen,
als das."
Frau Lovatti und ihre Tochter begriffen das nach
endlosen Hin- und Herreden, wie es die Italienerinnen
nun einmal lieben, und sio wurde denn ausgemacht,
daß Assunta am nächsten Morgen um zehn Ühr sich
bereit halten sollte. Frau Maria wollte mit ihr in
einem verschlossenen Wagen nach dem Institut der
Schwestern vom heiligen Kreuz fahren, wo sie ihre
vorläufige Ausstattung schon bereit finden würde. In
den Abendstunden sollte sich dann Frau Lovatti selbst
überzeugen, daß Alles in Ordnung und Assunta der
Abrede gemäß untergebracht war.
Frau Maria schrieb ihre Adresse auf einen Zettel,
den sie Frau Lovatti aushündigte, damit sie ihn an
den Grafen Severo übergebe, wenn er nach Assunta
fragte.
Als Frau Maria wieder auf die Straße trat, traf
sie mit dem Cavaliere Alfossi zusammen, der sie ge-
duldig erwartete.
„Nun?" fragte er.
„Was meinen Sie?" entgegnete Frau Maria harm-
los und unschuldig.
„Was haben Sie mit ihnen ausgemacht?"
„Ich? Was soll ich denn mit ihnen ausmachen?
Mein Gott, ich habe ihnen kleine Geschenke versprochen,
damit sie mir Nachricht über Severo zukommen lassen."
„Sonst nichts?"
„Nichts." . . .
Wenige Minuten später stieg sie wieder nach ihrer
mehr als bescheidenen Wohnung hinauf. Maria Son-
drini war in solchen Verhältnissen ausgewachsen. Sie
waren ihr also nichts Neues. Aber sie hatte gleich-
wohl in ihrer kurzen Ehe mit Graf Tito Glanz und

Pracht des Lebens genügend kennen gelernt, um jedes-
mal, wenn sie die engen, dunklen und winkeligen Treppen
in die Höhe stieg, die Fäuste zu ballen, die Zähne
allfeinander zu pressen und eine Verwünschung zu mur-
meln. Sie fühlte sich von der Höhe, auf der sie ge-
standen und auf der sie sich nicht zu erhalten vermocht
hatte, herabgestürzt und zwar — wie es gewöhnlich in
solchen Fällen zu geschehen pflegt — nicht durch ihre
Schuld, sondern durch Hochmuth und dünkelhaften
Adelsstolz Anderer. Daher ihr wilder, wühlender Haß
gegen Graf Tito, der jeden Tag, jede Stunde neue
Nahrung sog aus der ärmlichen Umgebung, in der sie
jetzt zu leben gezwungen war.
Aber heute schien sie mit sich zufrieden zu sein.
Ihre Blicke leuchteten stolz und kampfeemuthig, als sie
sich endlich wieder allein in ihrer Behausung fand.
Sie richtete sich vor ihrem Spiegel in ihrer ganzen
imposanten Größe und Schönheit auf und murmelte
zwischen den Zähnen: „Nun nimm Dich in Acht,
Tito! Du oder ich. Die Zeit der Abrechnung ist da!"

Sechstes Kcrpitek.
Das Geschlecht der Grafen v. Artignano konnte
seine Existenz bis in das frühe Mittelalter zurück nach-
weisen. Die Familie nannte sich nach einem kleinen
apulischen Küstenstüdtchen, Artignano, das aber schon
im 13. Jahrhundert, während der heißen Kümpfe
der Hohenstaufen und der Anjous, der Deutschen und
der Franzosen um die Herrschaft über Unteritalien zer-
stört wurde. Heute bezeichnen nur moos- und epheu-
überwucherte Ruinen, die auf den Ausläufern der
Abruzzen da und dort zerstreut liegen, die einstige Lage
der Stadt. Alles klebrige ist verschwunden, vom Meer
der Zeit hinweggespült, nur das Geschlecht der Grafen
v. Artignano hat sich erhalten bis in die neueste Zeit.
Aus ihrem Familienwappen, wie es über ihrem
Palazzo in Rom in Marmor gemeißelt zu sehen,
und das einen nackten Mann, der, in der Hand eine
Fahne haltend, den Fuß auf ein Mauerwerk, einen
Thurm oder Aehnliches ausstemmt, als ob er eben
davon Besitz ergreifen wollte oder ergriffen hätte, stand
in früher vergoldeten, jetzt aber verwitterten und ver-
waschenen Buchstaben: „In UksrniküK*)
Die Deutung, die man dieser Inschrift gab, war
eine verschiedene. Die Einen bezogen sie auf die Fa-
milie selbst und wollten darin die Prophezeiung oder
Hoffnung ausgesprochen sehen, daß dieses Geschlecht für-
alle Zeit bestehen und blühen werde. Die Anderen
wollten die Inschrift auf den Mann bezogen wissen,
in dem sie das Sinnbild der Menschheit überhaupt
erblickten, und nach diesen sollte die Inschrift besagen,
daß die Menschheit, so wie sie ist, mit allen Tugenden
und Mängeln, in Ewigkeit weitereristiren werde. Es
schien, als ob die letztere Deutung Recht behalten sollte,
denn das Geschlecht der Grafen v. Artignano hatte in
den letzten Zeiten große Verluste erlitten. Zwei Seiten-
linien waren ausgestorben und die ganze Familie nur
noch auf den Grafen Tito und seine zwei Söhne be-
schränkt.
Wenn nun auch dadurch ein gewaltiger Besitz in
die eine Hand des Grafen Tito zusammengefallen war,
der namentlich aus großen Gütern in Apulien und in
der Romagna bestand, so war es doch mit der „Ewig-
keit" der Familie eben nicht weit her, wie in aller-
jüngster Zeit auch der Schuß bei der Kirche Domino
gno vnclis bewies. Die „Ewigkeit" der Grafen v. Artig-
nano schien eben auch den Stempel des Menschenmaßes
zu tragen.
Solche Gedanken mochten auch dem Grafen Tito
dämmern, als man endlich seinen Sohn Alessandro,
nachdem ihn der Arzt für transportfähig erklärt hatte,
wieder nach dem Palazzo d'Artignano zurückbrachte. Seine
I Verwundung, ein Schuß in die linke Brust mit Ver-
letzung des oberen Lungenflügels, war nach Ausspruch
des Arztes zwar nicht mehr mit unmittelbarer Lebens-
gefahr verbunden, wohl aber drohte die Heilung, wenn
sie je vollständig gelang, ein langwieriger, äußerst frag-
licher und gefährlicher Prozeß zu werden.
Obgleich man nun von Seiten der Betheiligten
sorgsam bestrebt gewesen, so wenig wie möglich von
dem Vorkommnis; in die Oeffentlichkeit dringen zu lassen,
so war es in den Kreisen, in denen Graf Alessandro
gewöhnlich verkehrte, doch bekannt geworden. Eine
Zeitung hatte das so merkwürdig verlaufene Duell ohne
Namen und ohne nähere Umstände erzählt: sie ging in
den Klubs, in den Theatern, auch in den Boudoirs der
eleganten Damen, die mit dem jungen Grafen in ge-
sellschaftlicher Verbindung standen, eifrig von Hand zu
Hand, und den Namen und die näheren Umstände,
letztere oft in mehr oder weniger lächerlichen Ueber-
treibungen, raunte man sich geheimnißvoll gegenseitig zu.
Infolge dieses Umstandes war der Palazzo d'Artig-
nano in den letzten Tagen und besonders seit der Ueber-
führung des Kranken ein Gegenstand lebhafter Neugier
und vieler Besuche. Die Meisten beschränkten sich in

*) In Ewigkeit!
 
Annotationen