10k
Nach dem Kriege.
Heiteres aus ernster Zeit.
von
I. v. Elkmüller.
(Nachdruck verboten.)
uh der Schlacht bei Sedan und dem Zusam-
menbruche des französischen Kaiserreiches gab
die nüederhergestellte Republik die Losung aus:
„Kein Fuß französischen Bodens, kein Stein
unserer Festungen darf den Deutschen blei-
nd zur Vertreibung der Fremden rief Gam-
betta von Tours aus, wohin der Regierungssitz ver-
legt worden war, alle wehrhafte Mannschaft bis zum
vierzigsten Lebensjahre unter die Waffen, ein Massen-
aufgebot, wie es bis dahin die Welt noch nicht ge-
sehen hatte. Jeder wurde eingereiht, Freischützen-
bataillone gebildet, Fremdenlegionen errichtet und selbst
der alte Garibaldi verleitet, sich der bedrängten Repu-
blik als Freischaarenführer zur Verfügung zu stellen.
Wie hart die deutschen Heere zu kämpfen hatten,
um diese fanatisirten Haufen niederzuwerfen, lehrt die
Geschichte der zweiten Hälfte des deutsch-französischen
Krieges. Sie zeigt auch die ernste Bedeutung solcher
Volksbewaffnungen. Daß dieselbe aber auch eine theils
traurige, theils hochkomische Kehrseite hat, davon geben
die folgenden, durchaus wahrheitsgetreuen Schilderungen
Zeugniß, die wir zur Erbauung unserer Leser hier auf-
frischen wollen.
Während zu Ende des Jahres 1870 ein Theil der
von Gambetta „aus der Erde gestampften" Legionen in
freiem Felde in Schnee und Elend umkamen, lebten
und gähnten Andere in gezwungenem Müßiggang,
Solche, die ein gütiges Geschick in den Organisations-
mittelpunkten zurückhielt.
Dies war besonders der Fall in Lyon. Diese Stadt
glich einem Wallenstein'schen Lager, wie es auf der
Bühne dargestellt wird. Es wimmelte von Artilleristen
ohne Kanonen; von reitenden Jägern und Husaren
ohne Pferde; von Fußsoldaten ohne Schuhe und ohne
Gewehre. Feldmäßig ausgerüstet war nur die National-
garde; die blieb aber aus wohlverstandenem Patrio-
tismus ebenfalls hinter den schützenden Wällen, „zur
Sicherung der neuen Stantsform gegen den inneren
Feind." Zu Tausenden versammelten sich diese Land-
wehrmünner jeden Abe-ad auf dem Platze vor der Prä-
fektur, auf welcher symbolisch die rothe Fahne der freien
Kommune flatterte, und schossen mit scharfen Patronen
in die Luft oder auch auf mißliebige Gestalten. Den
Tag über setzten sie Offiziere ein und ab, machten den
Neugewühlten in feierlichem Zuge ihre Auswartung und
ließen sich den obligatorischen Ehrentrunk schmecken, nach
dessen Menge sie die militärische Würdigkeit des Mannes
bemaßen. Auf diese Weise brachte es ein Handschuh-
macher zum Batteriechef, und ein Weber zum Regiments-
adjutanten. Der Letztere, da er nie reiten gelernt hatte,
und schüchterne Versuche in alten Tagen zu keinem
Resultate führten, galopirte beim Felddienstüben zu Fuß
herum.
Die Kaffeehäuser waren überfüllt. Da ging es zu
wie in einem Taubenschlage. Von Zeit zu Zeit erschien
eine der unzähligen gcmtscw^, *) meistens eine sehr an-
sprechende Dame in gutsitzendem schwarzen Kleide, die
Kokarde auf der Brust, begleitet von zwei National-
gardisten, von denen der Eine das Gewehr im Arm
hatte, der Andere eine Trommel rührte. Ein Wirbel
ertönte. „Für die armen Verwundeten, wenn's ge-
fällig ist!" erfolgte die Aufforderung. Und nun machte
die Sammlerin die Runde mit dem Klingelbeutel. Man
gab gern und viel, und es mögen schöne Summen —
verschwunden sein; verschwunden, denn es stellte sich
spater heraus, daß die Meisten dieser Damen das Geld
mit den zwei Gardisten einfach theilten und verjubelten.
An den Tischen saßen in buntem Durcheinander die
Offiziere fremder Nation, welche ein Aufruf Gambetta's
in's Land gelockt hatte. Da waren z. B. Offiziere der
„Vogesenjüger", amtliche Benennung der Garibaldianer,
martialische Gestalten in weiten, grauen Radmänteln,
braunem Schlapphut mit Feder, brauner Bluse, braunen
Hosen in gelben Stiefeln, ganz theatralisch-räuberhaft
anzuschauen. Hier und da sah man eine Uniform der
alten regulären Armee an Rekonvaleseenten oder wort-
brüchigen Offizieren aus Metz und Sedan. Einige
Offiziere der russischen Garde, die mit Urlaub ihrer
Vorgesetzten sich in Frankreich aufhielten, sahen mit
überlegenem Lächeln dem bunten Treiben zu. Auch
Schweizer waren da, die in ihrem gut alemannrschen
Dialekt ihre Gedanken austauschten und sich leise ge-
standen, daß sie sich die Sache ganz anders gedacht,
und deren Begeisterung für die „große Nation" auf den
Gefrierpunkt zu finken begann.
Jin Großen und Ganzen: etwas Korn und viele
Spreu! Ernste Männer, welche, wie die Polen, ihre
ch Sammlerinnen.
Das V u ch f ü r A l l e.
nationale Sache zu fördern glaubten; Söldner mittel-
alterlichen Schlages, die ihren Degen schon in aller
Herren Länder gezogen, und die man überall um Geld
haben kann, aber auch Projektenmacher und Intriganten
der schlimmsten Art, und eine schöne Sammlung frecher
Schwindler und Beutesucher, gekommen, um im Trüben
zu fischen.
Noch klebten an allen Straßenecken die Anschläge eines
dieser Herren, der seine Bande „vonASE äs la mord«,
die Rächer des Todes nannte. Da hieß es unter An-
derem : „Wer unter unsere Fahne tritt, wisse zum Voraus,
daß wir keinen Pardon geben und keinen verlangen.
Dafür gewährt uns die Regierung doppelten Sold."
Die Uniform dieser Leute war, der Benennung ent-
sprechend, recht gruselig: Schwarz mit breiten weißen
Aufschlägen, schwarzes Beinkleid mit weißen: Band.
An einen: schönen Sonntage paradirte denn auch
dieses Korps richtig aus dem Platze „des Terreaux",
und marschirte am Montag früh ab, und zwar in Eil-
märschen direkt nach — der Schweizergrenze, wo die
Rächer auseinanderliefen, und die Offiziere in der Spiel-
hölle von Saxon von den Strapazen ausruhten. Ein
Mann, ein Einziger, war aus dem Wege umgekommen:
er erstickte an einer Fischgräte, der er „weder Pardon
gab, noch von ihr welchen erhielt".
Ein anderer findiger Kopf gründete mit Privilegium
der provisorischen Negierung die „Ungarischen Aus-
späher". Zwei Monate lang bezog er getreulich Sold
und Hafer für eine Schwadron; in Wirklichkeit aber
bestand dieselbe aus ihn: selbst, zwei Offizieren und
einem Trompeter, welcher getreulich den Tag über die
Signale zum Stalldienst, Ausrücken u. s. w. blies. Das
geschah vor Aller Augen; er trieb selbst seinen Spaß
damit. Nach dein Waffenstillstände verschwand er und
mag wohl irgendwo als Rentier leben.
Ein braver Zeitungsschreiber aus Wien, der in seinem
Leben noch nie gedient hatte, reiste straks nach Bordeaux,
hielt dem Diktator Gambetta eine schwungvolle Rede und
kam mit einem Patent als Offizier der stehenden Armee
zurück. Große Entrüstung war darüber unter seinen Kame-
raden, den schon erwähnten Rekonvaleseenten und Flücht-
lingen. „Wenn er sich erfreche, sich in Uniform zu zeigen, so
würden sie ihn mit Fußtritten in seine Wohnung zurück-
führen," drohten sie. Er blieb denn auch in Civil, und
ging weder zu seinen: Korps ab, noch ließ er sich an-
derswo einreihen, bezog aber ruhig die Equipirungs-
gelder sowohl wie den Sold, und sah sich inzwischen
die Stadt an.
Es fehlte nicht an Versuchen, bessere Ordnung zu
schaffen. In strengen Tagesbefehlen wurde den Offizieren
das Herumlungern in den Cafös verboten. Dam:
forderte man fämmtliche noch nicht installirte Offiziere
vor eine Prüfungskommission und examinirte sie. Aber
auch hier ging es manchmal gar sonderbar zu. Einen
Kavalleristen, der seit vielen Jahren in Chili und an-
deren Orten als Instruktor sich bewährt hatte, hielten die
Examinatoren drei Stunden lang im Kreuzfeuer. Einen
gewissen Almasi dagegen, der eii: Patent Garibaldi's
aus dem Jahre 1859 vorwies, fragten sie nur, wie bei
Requisitionen vorzugehen sei? „Ja," meinte er, „das
kommt darauf an. In Freundes- oder in Feindes-
land?"
„Macht das einen Unterschied?"
„Gewiß."
„Gut, schon gut; Sie können gehen."
Noch Anderen wurde, je nach Laune, das Examen
ganz geschenkt.
Natürlich war nicht Alles Schwindel. Ein gewesener
italienischer Kriegsminister, General Frapolli, gründete
ein „Sternenkorps" mit allen vier Waffengattungen.
Der ursprüngliche Gedanke des Polen Bossak-Hauke,
eine polnische Legion zu bilden, wurde von Landsleuten
ausgenommen, und ihre Werber gingen bis nach Kon-
stantinopel. Doch neigte der Krieg sich schnell seinem
Ende zu, und die Zeit war knapp bemessen. Um rasch
zu einem Resultat zu kommen, nahm man so ziemlich
Alles, was sich anbot. Wie bei den Offizieren, so fand
sich auch bei den Soldaten eine vollständige Muster-
karte aller Nationen, freilich nicht gerade in Pracht-
exemplaren. Selbst die „Polen" bestanden zur guten
Hälfte aus Schweizern, Griechen, Franzosen, und selbst
einen: Deutschen.
Ein baumlanger polnischer Unteroffizier machte
darüber seine Witze.
„Seht ihr diesen Preußen?" sagte er zu seinen
Kameraden. „Seht ihn euch wohl an, denn es ist der
Einzige, den ihr in diesem Kriege zu Gesicht bekommen
werdet!"
„Herr Jeses!" bemerkte der nämliche Unteroffizier
ein andermal in Gegenwart des kommandirenden Oberst,
als einige sehr schmächtige Gestalten eingeschrieben wurden,
„mit denen wollt ihr gegen die Deutschen ziehen? Die
spießt ja der erste beste Wachtmeister aus Pommern
zu Dutzenden auf sein Bajonnet!"
Doch wurde hier wenigstens gearbeitet, das heißt
geübt und gedrillt. Freilich litt man beständig unter
der grenzenlosen Nachlässigkeit und dem unbeschreib-
lichsten Wirrwarr der Intendantur.
Htst 4.
Nichts war vorgesehen, nichts angeordnet, und
dann wurde plötzlich wieder in überstürzter Eile Alles
durcheinander geworfen. Es kau: vor, daß zwei Re-
kruten, die in später Nacht eintrafen, für den Moment
in einem Gasthaus untergebracht wurden. Dann vergaß
man sie. Da sie kein Geld hatten, wagten sie sich nicht
zu zeigen, blieben im Bette und ließen sich die Mahl-
zeiten getrost auf's Zimmer bringen. Als man nach
drei Tagen sich ihrer erinnerte, mußte man sie mit
schwerem Gelde auslösen.
Die Einkleidung fand stückweise statt: eine Woche
die Hosen, die andere Woche den Wafsenrock; etwas
später die Stiefel. Zuletzt — inzwischen hatte man die
Gewehrgriffe mit Stöcken eingeübt — die Gewehre;
schöne bronzirte Waffen, beiläufig bemerkt, amerikanisches
Fabrikat, und ursprünglich für Rußland bestimmt, wie
die russische Inschrift auf dem Laufe bewies. Zugleich
erhielt jeder Alaun die Patronentasche mit Gürtel; aber
die Bajonnetscheide war vergessen worden.
Noch schlimmer stand es hei der Kavallerie. Es
fehlte an Pferden; die zahlreichen Agenten, welche mit
vielem Gelde zur Remonte im Auslande herumreisten,
ließen nichts von sich hören. Einige derselben kamen
später vor ein Kriegsgericht, wie überhaupt nach fünf
his sechs Jahren mancher Schwindel ausgedeckt, und
wenigstens ein Theil der Spitzhuben bestraft wurde.
Die Kasernen waren überfüllt; man benutzte leer-
stehende Fabriken zur Unterbringung der neuen Korps.
Da sah es schön aus: alles Eisenwerk, wie Schlösser
und Riegel, hatten die lieben Nachbarn schon längst
gestohlen. Selbst das Arrestlokal war nicht verschließbar,
und wenn ein Arrestant seine Strafe wirklich absaß,
so that er es gewissermaßen freiwillig. Dies war um
so bedenklicher, als der weiße Rhonewein, der in den
Schänken freigebig gespendet wurde, den Leuten in den
Kopf stieg; es kam jeden Abend zu mehr oder weniger-
offenem Aufruhr, und die Offiziere waren keine Nacht
ihres Lebens sicher.
Die armen Teufel von Soldaten hatten nicht immer
Unrecht. Sie lagen auf verfaultem Stroh, in der Suppe
schwammen einige melancholische Knochen, durch die
Fenster ohne Scheiben drang Külte und Schnee in die
Schlafsüle. Oft fehlte das Brod. Geführt von einem
Unteroffizier und in militärischer Ordnung ausrückend,
wie zu einen: befohlenen Dienste, desertirten einmal
achtunddreißig Mann gleichzeitig.
Auch die Offiziere hatten zu leiden. Es waren
wenig Millionäre darunter; die Meisten warteten mit
Ungeduld auf die Equipirungsgelder oder wenigstens
auf den vierzehntägigen Sold. Aber die Intendanten
wechselten in rascher Folge, und ein Jeder brachte oder
erhielt andere Befehle. Die Auszahlung der Equipi-
rungsgelder wurde plötzlich eingestellt, da einige Schlau-
linge dieselben zwei-, ja dreimal bezogen hatten, indem
sie ebenso oft das Korps wechselten. Ein Lieutenant,
der schon seit sechs Wochen diente, und ehrlich diente,
war noch auf keiner Soldtabelle eingetragen. Zwei
Andere suchten in Heller Verzweiflung den General-
intendanten in seinem Hause auf, brachten ihre Klagen
vor, und zeigten, zur Rechtfertigung ihres etwas kühnen
Schrittes, ihr angegriffenes Schuhwerk.
„Ja, meine Herren," antwortete der Intendant,
„das ist ja recht betrübend, aber ich habe meine Befehle.
Soll ich Ihnen aus meiner Tasche etwas vorschießen?"
Sie lehnten natürlich ab, liefe:: aber noch über eine
Woche im Schnee auf den Brandsohlen herum.
Hinwiederum ein ^bezeichnender Gegensatz! Der Chef
eines Korps drang lange umsonst auf Genehmigung
seiner Rechnungen. „Ich habe keine Zeit!" entgegnete
der Intendant. „Wollen Sie Geld?"
„Ich brauche kein Geld," versetzte der Offizier.
Damit zeigte er seine mit Banknoten gefüllte Geldtasche.
„Ich brauche Ihre Unterschrift."
„Wir haben aber wirklich keine Zeit; ich versichere
Ihnen, es ist ganz unmöglich! Ich will Ihnen lieber
Geld geben."
„Ich wiederhole, daß ich keines brauche."
„Nun, so geben Sie die Papiere," sagte endlich
seufzend der Intendant, und unterzeichnete ohne weitere
Prüfung die ihm vorgelegten Quittungen.
Ende Januar wurde:: fämmtliche dieser Korps an-
gewiesen, sich feldbereit zu halten. Zugleich erhielten
die Soldaten ihre Mäntel. „Auf in den Krieg! End-
lich!" also dachte Altes, und war froh, nur aus dem
faulen Wesen herauszukommen, denn mit Ausnahme
der Generäle wußte Niemand, wie die Sachen lagen.
Um Mitternacht kam der Befehl zum Abmarsch nach
dein Bahnhöfe. Da nichts recht klappen wollte, mußte
man in Schnee und Wasser fünf Stunden lang warten
und sich die Füße vertreten. Endlich war der Zug
bereit. Die Soldaten stiegen ein, und pustend, keuchend,
pfeifend ging es davon nach Avignon, von wo die paar-
taufend Mann in sieben Tagen die Bergfeste Sisteron,
ihren neuen Garnisonsort, zu gewinnen hatten. Ein
Waffenstillstand — das erfuhr man erst in Avignon —
machte dem Kriege ein vorläufiges Ende. Paris hatte
sich ergeben; und im ganzen Lande fanden gesetzliche
Neuwahlen von Abgeordneten statt, welche der proviso-
ben!"
Nach dem Kriege.
Heiteres aus ernster Zeit.
von
I. v. Elkmüller.
(Nachdruck verboten.)
uh der Schlacht bei Sedan und dem Zusam-
menbruche des französischen Kaiserreiches gab
die nüederhergestellte Republik die Losung aus:
„Kein Fuß französischen Bodens, kein Stein
unserer Festungen darf den Deutschen blei-
nd zur Vertreibung der Fremden rief Gam-
betta von Tours aus, wohin der Regierungssitz ver-
legt worden war, alle wehrhafte Mannschaft bis zum
vierzigsten Lebensjahre unter die Waffen, ein Massen-
aufgebot, wie es bis dahin die Welt noch nicht ge-
sehen hatte. Jeder wurde eingereiht, Freischützen-
bataillone gebildet, Fremdenlegionen errichtet und selbst
der alte Garibaldi verleitet, sich der bedrängten Repu-
blik als Freischaarenführer zur Verfügung zu stellen.
Wie hart die deutschen Heere zu kämpfen hatten,
um diese fanatisirten Haufen niederzuwerfen, lehrt die
Geschichte der zweiten Hälfte des deutsch-französischen
Krieges. Sie zeigt auch die ernste Bedeutung solcher
Volksbewaffnungen. Daß dieselbe aber auch eine theils
traurige, theils hochkomische Kehrseite hat, davon geben
die folgenden, durchaus wahrheitsgetreuen Schilderungen
Zeugniß, die wir zur Erbauung unserer Leser hier auf-
frischen wollen.
Während zu Ende des Jahres 1870 ein Theil der
von Gambetta „aus der Erde gestampften" Legionen in
freiem Felde in Schnee und Elend umkamen, lebten
und gähnten Andere in gezwungenem Müßiggang,
Solche, die ein gütiges Geschick in den Organisations-
mittelpunkten zurückhielt.
Dies war besonders der Fall in Lyon. Diese Stadt
glich einem Wallenstein'schen Lager, wie es auf der
Bühne dargestellt wird. Es wimmelte von Artilleristen
ohne Kanonen; von reitenden Jägern und Husaren
ohne Pferde; von Fußsoldaten ohne Schuhe und ohne
Gewehre. Feldmäßig ausgerüstet war nur die National-
garde; die blieb aber aus wohlverstandenem Patrio-
tismus ebenfalls hinter den schützenden Wällen, „zur
Sicherung der neuen Stantsform gegen den inneren
Feind." Zu Tausenden versammelten sich diese Land-
wehrmünner jeden Abe-ad auf dem Platze vor der Prä-
fektur, auf welcher symbolisch die rothe Fahne der freien
Kommune flatterte, und schossen mit scharfen Patronen
in die Luft oder auch auf mißliebige Gestalten. Den
Tag über setzten sie Offiziere ein und ab, machten den
Neugewühlten in feierlichem Zuge ihre Auswartung und
ließen sich den obligatorischen Ehrentrunk schmecken, nach
dessen Menge sie die militärische Würdigkeit des Mannes
bemaßen. Auf diese Weise brachte es ein Handschuh-
macher zum Batteriechef, und ein Weber zum Regiments-
adjutanten. Der Letztere, da er nie reiten gelernt hatte,
und schüchterne Versuche in alten Tagen zu keinem
Resultate führten, galopirte beim Felddienstüben zu Fuß
herum.
Die Kaffeehäuser waren überfüllt. Da ging es zu
wie in einem Taubenschlage. Von Zeit zu Zeit erschien
eine der unzähligen gcmtscw^, *) meistens eine sehr an-
sprechende Dame in gutsitzendem schwarzen Kleide, die
Kokarde auf der Brust, begleitet von zwei National-
gardisten, von denen der Eine das Gewehr im Arm
hatte, der Andere eine Trommel rührte. Ein Wirbel
ertönte. „Für die armen Verwundeten, wenn's ge-
fällig ist!" erfolgte die Aufforderung. Und nun machte
die Sammlerin die Runde mit dem Klingelbeutel. Man
gab gern und viel, und es mögen schöne Summen —
verschwunden sein; verschwunden, denn es stellte sich
spater heraus, daß die Meisten dieser Damen das Geld
mit den zwei Gardisten einfach theilten und verjubelten.
An den Tischen saßen in buntem Durcheinander die
Offiziere fremder Nation, welche ein Aufruf Gambetta's
in's Land gelockt hatte. Da waren z. B. Offiziere der
„Vogesenjüger", amtliche Benennung der Garibaldianer,
martialische Gestalten in weiten, grauen Radmänteln,
braunem Schlapphut mit Feder, brauner Bluse, braunen
Hosen in gelben Stiefeln, ganz theatralisch-räuberhaft
anzuschauen. Hier und da sah man eine Uniform der
alten regulären Armee an Rekonvaleseenten oder wort-
brüchigen Offizieren aus Metz und Sedan. Einige
Offiziere der russischen Garde, die mit Urlaub ihrer
Vorgesetzten sich in Frankreich aufhielten, sahen mit
überlegenem Lächeln dem bunten Treiben zu. Auch
Schweizer waren da, die in ihrem gut alemannrschen
Dialekt ihre Gedanken austauschten und sich leise ge-
standen, daß sie sich die Sache ganz anders gedacht,
und deren Begeisterung für die „große Nation" auf den
Gefrierpunkt zu finken begann.
Jin Großen und Ganzen: etwas Korn und viele
Spreu! Ernste Männer, welche, wie die Polen, ihre
ch Sammlerinnen.
Das V u ch f ü r A l l e.
nationale Sache zu fördern glaubten; Söldner mittel-
alterlichen Schlages, die ihren Degen schon in aller
Herren Länder gezogen, und die man überall um Geld
haben kann, aber auch Projektenmacher und Intriganten
der schlimmsten Art, und eine schöne Sammlung frecher
Schwindler und Beutesucher, gekommen, um im Trüben
zu fischen.
Noch klebten an allen Straßenecken die Anschläge eines
dieser Herren, der seine Bande „vonASE äs la mord«,
die Rächer des Todes nannte. Da hieß es unter An-
derem : „Wer unter unsere Fahne tritt, wisse zum Voraus,
daß wir keinen Pardon geben und keinen verlangen.
Dafür gewährt uns die Regierung doppelten Sold."
Die Uniform dieser Leute war, der Benennung ent-
sprechend, recht gruselig: Schwarz mit breiten weißen
Aufschlägen, schwarzes Beinkleid mit weißen: Band.
An einen: schönen Sonntage paradirte denn auch
dieses Korps richtig aus dem Platze „des Terreaux",
und marschirte am Montag früh ab, und zwar in Eil-
märschen direkt nach — der Schweizergrenze, wo die
Rächer auseinanderliefen, und die Offiziere in der Spiel-
hölle von Saxon von den Strapazen ausruhten. Ein
Mann, ein Einziger, war aus dem Wege umgekommen:
er erstickte an einer Fischgräte, der er „weder Pardon
gab, noch von ihr welchen erhielt".
Ein anderer findiger Kopf gründete mit Privilegium
der provisorischen Negierung die „Ungarischen Aus-
späher". Zwei Monate lang bezog er getreulich Sold
und Hafer für eine Schwadron; in Wirklichkeit aber
bestand dieselbe aus ihn: selbst, zwei Offizieren und
einem Trompeter, welcher getreulich den Tag über die
Signale zum Stalldienst, Ausrücken u. s. w. blies. Das
geschah vor Aller Augen; er trieb selbst seinen Spaß
damit. Nach dein Waffenstillstände verschwand er und
mag wohl irgendwo als Rentier leben.
Ein braver Zeitungsschreiber aus Wien, der in seinem
Leben noch nie gedient hatte, reiste straks nach Bordeaux,
hielt dem Diktator Gambetta eine schwungvolle Rede und
kam mit einem Patent als Offizier der stehenden Armee
zurück. Große Entrüstung war darüber unter seinen Kame-
raden, den schon erwähnten Rekonvaleseenten und Flücht-
lingen. „Wenn er sich erfreche, sich in Uniform zu zeigen, so
würden sie ihn mit Fußtritten in seine Wohnung zurück-
führen," drohten sie. Er blieb denn auch in Civil, und
ging weder zu seinen: Korps ab, noch ließ er sich an-
derswo einreihen, bezog aber ruhig die Equipirungs-
gelder sowohl wie den Sold, und sah sich inzwischen
die Stadt an.
Es fehlte nicht an Versuchen, bessere Ordnung zu
schaffen. In strengen Tagesbefehlen wurde den Offizieren
das Herumlungern in den Cafös verboten. Dam:
forderte man fämmtliche noch nicht installirte Offiziere
vor eine Prüfungskommission und examinirte sie. Aber
auch hier ging es manchmal gar sonderbar zu. Einen
Kavalleristen, der seit vielen Jahren in Chili und an-
deren Orten als Instruktor sich bewährt hatte, hielten die
Examinatoren drei Stunden lang im Kreuzfeuer. Einen
gewissen Almasi dagegen, der eii: Patent Garibaldi's
aus dem Jahre 1859 vorwies, fragten sie nur, wie bei
Requisitionen vorzugehen sei? „Ja," meinte er, „das
kommt darauf an. In Freundes- oder in Feindes-
land?"
„Macht das einen Unterschied?"
„Gewiß."
„Gut, schon gut; Sie können gehen."
Noch Anderen wurde, je nach Laune, das Examen
ganz geschenkt.
Natürlich war nicht Alles Schwindel. Ein gewesener
italienischer Kriegsminister, General Frapolli, gründete
ein „Sternenkorps" mit allen vier Waffengattungen.
Der ursprüngliche Gedanke des Polen Bossak-Hauke,
eine polnische Legion zu bilden, wurde von Landsleuten
ausgenommen, und ihre Werber gingen bis nach Kon-
stantinopel. Doch neigte der Krieg sich schnell seinem
Ende zu, und die Zeit war knapp bemessen. Um rasch
zu einem Resultat zu kommen, nahm man so ziemlich
Alles, was sich anbot. Wie bei den Offizieren, so fand
sich auch bei den Soldaten eine vollständige Muster-
karte aller Nationen, freilich nicht gerade in Pracht-
exemplaren. Selbst die „Polen" bestanden zur guten
Hälfte aus Schweizern, Griechen, Franzosen, und selbst
einen: Deutschen.
Ein baumlanger polnischer Unteroffizier machte
darüber seine Witze.
„Seht ihr diesen Preußen?" sagte er zu seinen
Kameraden. „Seht ihn euch wohl an, denn es ist der
Einzige, den ihr in diesem Kriege zu Gesicht bekommen
werdet!"
„Herr Jeses!" bemerkte der nämliche Unteroffizier
ein andermal in Gegenwart des kommandirenden Oberst,
als einige sehr schmächtige Gestalten eingeschrieben wurden,
„mit denen wollt ihr gegen die Deutschen ziehen? Die
spießt ja der erste beste Wachtmeister aus Pommern
zu Dutzenden auf sein Bajonnet!"
Doch wurde hier wenigstens gearbeitet, das heißt
geübt und gedrillt. Freilich litt man beständig unter
der grenzenlosen Nachlässigkeit und dem unbeschreib-
lichsten Wirrwarr der Intendantur.
Htst 4.
Nichts war vorgesehen, nichts angeordnet, und
dann wurde plötzlich wieder in überstürzter Eile Alles
durcheinander geworfen. Es kau: vor, daß zwei Re-
kruten, die in später Nacht eintrafen, für den Moment
in einem Gasthaus untergebracht wurden. Dann vergaß
man sie. Da sie kein Geld hatten, wagten sie sich nicht
zu zeigen, blieben im Bette und ließen sich die Mahl-
zeiten getrost auf's Zimmer bringen. Als man nach
drei Tagen sich ihrer erinnerte, mußte man sie mit
schwerem Gelde auslösen.
Die Einkleidung fand stückweise statt: eine Woche
die Hosen, die andere Woche den Wafsenrock; etwas
später die Stiefel. Zuletzt — inzwischen hatte man die
Gewehrgriffe mit Stöcken eingeübt — die Gewehre;
schöne bronzirte Waffen, beiläufig bemerkt, amerikanisches
Fabrikat, und ursprünglich für Rußland bestimmt, wie
die russische Inschrift auf dem Laufe bewies. Zugleich
erhielt jeder Alaun die Patronentasche mit Gürtel; aber
die Bajonnetscheide war vergessen worden.
Noch schlimmer stand es hei der Kavallerie. Es
fehlte an Pferden; die zahlreichen Agenten, welche mit
vielem Gelde zur Remonte im Auslande herumreisten,
ließen nichts von sich hören. Einige derselben kamen
später vor ein Kriegsgericht, wie überhaupt nach fünf
his sechs Jahren mancher Schwindel ausgedeckt, und
wenigstens ein Theil der Spitzhuben bestraft wurde.
Die Kasernen waren überfüllt; man benutzte leer-
stehende Fabriken zur Unterbringung der neuen Korps.
Da sah es schön aus: alles Eisenwerk, wie Schlösser
und Riegel, hatten die lieben Nachbarn schon längst
gestohlen. Selbst das Arrestlokal war nicht verschließbar,
und wenn ein Arrestant seine Strafe wirklich absaß,
so that er es gewissermaßen freiwillig. Dies war um
so bedenklicher, als der weiße Rhonewein, der in den
Schänken freigebig gespendet wurde, den Leuten in den
Kopf stieg; es kam jeden Abend zu mehr oder weniger-
offenem Aufruhr, und die Offiziere waren keine Nacht
ihres Lebens sicher.
Die armen Teufel von Soldaten hatten nicht immer
Unrecht. Sie lagen auf verfaultem Stroh, in der Suppe
schwammen einige melancholische Knochen, durch die
Fenster ohne Scheiben drang Külte und Schnee in die
Schlafsüle. Oft fehlte das Brod. Geführt von einem
Unteroffizier und in militärischer Ordnung ausrückend,
wie zu einen: befohlenen Dienste, desertirten einmal
achtunddreißig Mann gleichzeitig.
Auch die Offiziere hatten zu leiden. Es waren
wenig Millionäre darunter; die Meisten warteten mit
Ungeduld auf die Equipirungsgelder oder wenigstens
auf den vierzehntägigen Sold. Aber die Intendanten
wechselten in rascher Folge, und ein Jeder brachte oder
erhielt andere Befehle. Die Auszahlung der Equipi-
rungsgelder wurde plötzlich eingestellt, da einige Schlau-
linge dieselben zwei-, ja dreimal bezogen hatten, indem
sie ebenso oft das Korps wechselten. Ein Lieutenant,
der schon seit sechs Wochen diente, und ehrlich diente,
war noch auf keiner Soldtabelle eingetragen. Zwei
Andere suchten in Heller Verzweiflung den General-
intendanten in seinem Hause auf, brachten ihre Klagen
vor, und zeigten, zur Rechtfertigung ihres etwas kühnen
Schrittes, ihr angegriffenes Schuhwerk.
„Ja, meine Herren," antwortete der Intendant,
„das ist ja recht betrübend, aber ich habe meine Befehle.
Soll ich Ihnen aus meiner Tasche etwas vorschießen?"
Sie lehnten natürlich ab, liefe:: aber noch über eine
Woche im Schnee auf den Brandsohlen herum.
Hinwiederum ein ^bezeichnender Gegensatz! Der Chef
eines Korps drang lange umsonst auf Genehmigung
seiner Rechnungen. „Ich habe keine Zeit!" entgegnete
der Intendant. „Wollen Sie Geld?"
„Ich brauche kein Geld," versetzte der Offizier.
Damit zeigte er seine mit Banknoten gefüllte Geldtasche.
„Ich brauche Ihre Unterschrift."
„Wir haben aber wirklich keine Zeit; ich versichere
Ihnen, es ist ganz unmöglich! Ich will Ihnen lieber
Geld geben."
„Ich wiederhole, daß ich keines brauche."
„Nun, so geben Sie die Papiere," sagte endlich
seufzend der Intendant, und unterzeichnete ohne weitere
Prüfung die ihm vorgelegten Quittungen.
Ende Januar wurde:: fämmtliche dieser Korps an-
gewiesen, sich feldbereit zu halten. Zugleich erhielten
die Soldaten ihre Mäntel. „Auf in den Krieg! End-
lich!" also dachte Altes, und war froh, nur aus dem
faulen Wesen herauszukommen, denn mit Ausnahme
der Generäle wußte Niemand, wie die Sachen lagen.
Um Mitternacht kam der Befehl zum Abmarsch nach
dein Bahnhöfe. Da nichts recht klappen wollte, mußte
man in Schnee und Wasser fünf Stunden lang warten
und sich die Füße vertreten. Endlich war der Zug
bereit. Die Soldaten stiegen ein, und pustend, keuchend,
pfeifend ging es davon nach Avignon, von wo die paar-
taufend Mann in sieben Tagen die Bergfeste Sisteron,
ihren neuen Garnisonsort, zu gewinnen hatten. Ein
Waffenstillstand — das erfuhr man erst in Avignon —
machte dem Kriege ein vorläufiges Ende. Paris hatte
sich ergeben; und im ganzen Lande fanden gesetzliche
Neuwahlen von Abgeordneten statt, welche der proviso-
ben!"