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sorgt, daß Niemand in das Gehöft, vor Allem aber
nicht in das Zimmer kommt, in dein das Verbrecher:
verübt worden ist. Aber außer der weiter an der Wanv
ist keine Spur des Verbrechers zurückgeblieben. Ich
habe bereits den ganzen Garten nach Fußspuren ab-
gesucht, auch schon die Umgegend; habe aber nichts
gesunden. Auch in: Dorfkrug habe ich Nachfrage ge-
halten, ob etwa verdächtiges Gesindel an: Abend vorher
dagewesen ist, der Wirth verneinte dies aber."
Wenige Minuten später hielten nur vor den: Hause,
in dem das Verbrechen verübt worden war. Einzelne
Neugierige, Männer, Frauen: und Kinder, die vor den:
Hause standen, wurden von den: Amtsdienern zurück-
gehalten. Die Wirthschafterin, eine alte, würdige Frau,
die bei unserem Anblick laut zu weinen begann, empfing
uns unten im Hausflur und geleitete uns in das Wohn-
zimmer.
Wildner ließ seinen Utensilienkasten hereintragen,
öffnete ihn, entnahm ihm einen: Block guadrirten PapiereS
und mehrere Bleistifte und sagte zu mir: „Während
ich einen Nundgang durch das Haus mache, skizzirst
Du flüchtig die Lage aller Zimmer. Wenn es noth-
wendig ist, machen nur
von dem ganzen Haus eine
genaue Ausnahme. Vor-
läufig genügt die flüchtige
Skizze. — Bitte, führen
Sie uns nun herum, Frau
Schrader, und erklären Sie
uns die Einrichtung des
Hauses. — Sie, Herr Dok¬
tor, bemühen sich unterdes;
zu dem Kranken und sehen
einmal nach, wie es mit
ihm steht; vor Allen:, ob er
vernehmungsfähig werden
könnte."
Die Besichtigung dauerte
nicht allzulange. Im Keller
befanden sich aus der einen
Seite Räumlichkeiten zur
Unterbringung von Pro-
viant, Holz und Kohlen.
Auf der anderen Seite, die
nach der Straße zuging,
waren drei Räume, welche
der Kutscher nut seiner
Familie bewohnte. In: Erd-
geschoß waren zwei Zimmer;
eine Wohn- und eine soge-
nannte „gute Stube"; dann
kau: der Hausgang, und
auf der anderen Seite des-
selben befand fich eine große
Küche, dann zwei Zimmer,
in deren einem die Wirth-
schafterin und in dem ande-
ren das Dienstmädchen schlief.
Im Giebelstock befand sich
über dieser Küche und diesen
beiden Zimmern der Boden.
Auf der anderen Seite, also
über der „guten Stube", be-
fand sich das Schlaf- und
Arbeitszimmer Gruber's.
Schon aus der Lage der ver-
schiedenen Zimmer war da-
her zu entnehmen, daß ein
Geräusch nicht so leicht in
dem Zimmer der Wirth-
schafterin und des Dienst-
mädchens gehört werden konnte, selbst wenn mehrere
Personen sich in: Schlaf- und Arbeitszimmer Gruber's
bewegten.
Wir verließen das Haus und gingen nach dem
Garten. Dieser enthielt eine Anzahl von Obstbüumen,
die aber noch verhültnißmüßig jung waren. Er war
in seinem kleineren Theile- mit Blumen bepflanzt und
sonst zum Gemüseanbau verwendet. Die Gänge in:
Garten waren mit Ziegelsteinen: ausgelegt, so wie man
es in den holländischen Städten findet. Es erklärte
sich also leicht, warum ein Fußabdruck des Verbrechers
in: Garte:: nicht zurückgebliehen war. Die Leiter stand
noch an den: geöffneten Fenster in: ersten Stock.
„Notire!" fügte Wildner zu nur. „Hölzerne Fenster-
laden in: Untergeschoß; in: Giebelgeschoß keine Fenster-
laden. — Nun wollen nur einmal den Garten aögehen.
Vorher noch eine Frage: stammt die Leiter, die dort
nm Fenster liegt, von dem Gehöft?"
„Jawohl!" erklärte der Kutscher. „Sie hängt, zu-
sammen mit einer größeren Feuerleiter, für gewöhnlich
unter den: Dachvorsprung vom Pferdestall. Sie können
dort drüben noch die Feuerleiter sehe::. Die kurze Leiter
war unter der Feuerleiter mit einer Kette an der Wand
befestigt, und die Kette mit einem Schloß versichert."
Wir gingen nach dem Vorbau an: Pferdestall, unter
welchem die Leitern angebracht waren.
„Wo ist das Schloß?" fragte Wildner.

Das Buch für All e.
„Hier liegt es!" versetzte der Kutscher; „ich habe so-
fort heute früh darnach gesucht und es hier gefunden.
Es ist nicht aufgebrochen, sondern mit einen: Schlüssel
geöffnet. Der Schlüssel ist aber nicht zur Stelle."
Wildner untersuchte nun die Kette und das Schloß.
Dann befahl er: „Alle Personen bleiben zurück; nur
der Wachtmeister und der Gemeindevorsteher mit den
beiden Schöffen begleite:: uns nunter. Wir »vollen die
Gänge des Gartens genau abschreiten und vor Allen:
sehen, ob inan nicht eine Stelle hinten an der Blauer
entdeckt, ivo der Verbrecher in das Gehöft hineingelangt
ist. Daß er von hinten über die Blauer gekommen ist,
dürste wohl zweifellos sein. — Bitte, Herr Wacht-
meister, mit einen: der Schöffen gehen Sie dort rechts
den Gang hinunter; Sie, Herr Gemeindevorsteher, mit
den: anderen Schöffen den Gang links; ich werde hier
in der Mitte nach Spuren suchen."
Als nur allein waren, fragte mich Wildner:
„Nun, Du angehender Kriminalist, merkst Du schon
etwas?"
„Ich merke wohl etwas. Der Verbrecher hat die
Sache sehr sorgfältig geplant, denn er hat sich offenbar

einen Nachschlüssel besorgt, um die Leiter von der Wand
zu holen."
„Ja, die Sache ist sehr sorgfältig geplant. Aber
noch mehr geht schon aus diesen Anzeichen hervor.
Hier hat kein Fremder gearbeitet; es handelt sich um
eine Persönlichkeit, die in: Hause und mit den Ver-
hältnissen sehr genau Bescheid weiß."
Die Gruppe, bei welcher sich der Gendarm befand,
rief uns jetzt heran. Der Gendarm wies auf eine
Stelle an der Gartenmauer, die aus Feldsteiuen auf-
geführt und grob mit Mörtel beworfen war. In
ihrer Bekrönung waren Flaschenscherben mit Mörtel
befestigt, um das Uebersteigen zu verhindern. An dieser
Stelle der Blauer lag dicht an derselben ein Stapel
von Bohnenstangen, deren inan jetzt in der herbstlichen
Jahreszeit in: Garten nicht mehr bedurfte, und welche
hier regelrecht aufgeschichtet worden waren. Oberhalb
dieses Stapels von Bohnenstangen lag auf der Mauer-
krönung irgend ein nicht deutlich zu erkennender Gegen-
stand.
Wildner trat heran, und der Gendarm meldete: „Hier
ist wohl Jemand auf die Bohnenstangen getreten; einige
der oberen Stangen sind zerbrochen. Es muß ein
großer und schwerer Mensch gewesen sein. Und dort
oben hat er etwas auf die Mauer gelegt, um sich an
den Glasscherben nicht zu verletzen."
„Vorsicht! Vorsicht!" rief Wildner. „Erst muß

Helt 6.

sorgfältig die ganze Umgegend abgesucht werden, ehe
Jemand' dorthin tritt. Die Leiter muß herbeigeschasft
werden, damit wir sehen, was sich jenseits der Blauer
befindet."
„Das werden nur gleich sehen," erklärte der Gen-
darm, schnallte seinen Säbel ab und voltigirte geschickt
auf die Blauer. „Herr Untersuchungsrichter!" meldete
er von oben herunter, „jenseits der Mauer liegt an
derselben Stelle ein Haufen von Feldsteinen. Das,
was hier oben auf der Blauer liegt, scheint vertrocknetes
Kartoffelkraut zu sein. Der Einbrecher hat dieses Kartoffel-
kraut auf die Blauer gelegt, um sich nicht zu beschädigen.
Er ist dann auf den Haufen von Feldsteinen gestiegen,
hat sich über die Blauer geschwungen und ist hier auf
die Bohnenstangen gekommen; das hat ihn: das Ueber-
steigen außerordentlich erleichtert."
„Was sind das für Steine dort jenseits der Blauer?"
„Es sind Feldsteine, wie man sie bei Ver Bearbeitung
! des Ackers findet und an Zäunen und Blauer:: mit
Vorliebe zu Haufen aufzuschichten pflegt. Die Feld-
! steine müssen schon sehr lange hier unten liegen, denn
! es wächst dichtes Gras zwischen ihnen."
„Liegt nichts Auffallen-
des in der Nähe dieser
Steine?" fragte Wildner.
„Nein, H^w Untersu-
chungsrichter, nicht das Ge-
ringste. Aber ich sehe doch,
daß das Gras hier nieder-
getreten ist."
„Ist irgend eine Spur
zu sehen?"
„Nein, es kommt dann
gleich ein Feldrain mit kürz-
gehaltenem Grase; auf die-
sem ist nichts zu sehen."
„Kommen Sie herunter.
Wir werden sorgfältig auch
diesen Fleck untersuchen.
Wir haben hier die Stelle,
wo der Verbrecher überge-
stiegen ist. Er kam also,
ivie ich sofort vermuthete,
von hinten auf das Grund-
stück, nicht von der Land-
straße aus. Sie, Herr
Wachtmeister, gehen jetzt
nut einem der Schöffen um
das Gehöft heran: nach der
Stelle, wo sich der Stein-
haufen befindet; untersuchen
Sie dort jeden Zoll breit
Boden auf das Genaueste!
Vielleicht hat der Verbrecher-
bein: Herabspringen oder
Uebersteigen etwas verloren,
ist irgendwo hängen geblie-
ben, und nur finden eine
Spur. Nehmen Sie sich
aus der Küche einige Stücke
Holz mit, aus denen Sie
Quadrate bilden können,
und fühlen Sie jedes Qua-
drat Boden sorgfältig ab,
damit Sie nichts übersehen!"
Wir kehrten nach den:
Hofe zurück, auf welchen:
die Wirthschafterin und die
anderen Hausinsafsen uns
erwarteten. Auf dem Wege
dahin erklärte mir Wildner:
„Es wäre vielleicht besser gewesen, die Aufsprung-
und Uebersteigestelle genauer zu untersuchen; ich ar-
beite aber nach einen: anderen Plan, ich suche mir
erst die „Generalidee" zu begrenzen, und die besteht
hauptsächlich darin, daß ich sehe, wie der Verbrecher in
das Gehöft gelangt ist. Er ging also jedenfalls auf
einem der Klinkerwege bis hierher an die Stelle, wo
nach seiner genauen Kenntniß die Leiter hing, und
öffnete das Schloß. Wo ist," wendete Wildner sich
an den Kutscher, „der Schlüssel, der sonst zum Oeffnen
des Schlosses bestimmt ist?"
„Dieser Schlüssel hängt in der Wohnstube in: Erd-
geschoß gleich an der Thür an dem Schlüsselbrettchen."
„Wir wollen uns sofort überzeugen, ob der Schlüssel
an Ort und Stelle hängt," erklärte Wildner; „folgen
Me mir Alle!"
Wir traten in das Wohnzimmer, in welchem auch
der Utensilienkasten stand.
„Da ist das Schlüsselbrett!" sagte die Wirthschaf-
terin.
„Es ist gut," sagte Wildner. „Niemand trete an
das Brett heran und Niemand berühre vor Allen: den
Schlüssel!" Aus dem Utensilienkasten nahm er darauf
eine Kerze und zündete dieselbe an, trotzdem es Heller-
Tag war. „Nun zeigen- Sie mir," sagte er zu dem
Kutscher, „aus der Entfernung, welches der Schlüssel
ist, mit dem das Schloß geöffnet werden kann."

Wutey Akd-nk-Aziz, der neue Sultan von Marokko. (S. 15H
 
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