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354

Hrst 15.

Das Buch für Alle.

im nächsten Moment wieder verschwindend, über die
einsame Parkecke, und Hans v. Bukow sah eine dunkle
Gestalt neben der weißschimmernden Marmorplatte
stehen.
Als er näher herankam, war die Erscheinung ver-
schwunden, und die Bäume bogen sich knarrend zu-
sammen, als ob sie ein ihnen anvertrautes Geheimnis;
mit ihren Zweigen einflechten wollten.
Der Baron setzte sich auf die kleine Bank, welche
neben dem Denkmal angebracht war, und legte die ge-
falteten Hände auf seinen Stock.
Seit dem heutigen Tage, seit wenigen Stunden
begann er ernstliche Zweifel zu hegen, ob denn wirklich
der eigene, vielleicht getrübte Wille dieses junge Leben
vernichtet, oder ob nicht etwa eine andere Hand sich
freventlich ausgestreckt habe.
Er schauderte, wenn er an diese Hand dachte. Es
war dieselbe, die der Todten Treue geschworen, es war
dieselbe, die den Blinden das Licht gab, es war eine
von Tausenden geliebte und gesegnete Hand.
Er hatte keinen Augenblick gezögert, auch sein zweites
Kind dieser Hand anzuvertrauen, er würde aus dieselbe
einen Eid geschworen, er würde ihr sein Leben anheim-
gegeben haben.
Und es konnte dennoch kaum anders sein.
Jene Urkunde, an deren Echtheit nicht gezweifelt
werden konnte, hatte sich versteckt unter den Papieren
des Professors aufgesunden. Sie nahm der Gattin
dieses Mannes ein Vermögen, ihr Verschwinden gab
dasselbe zurück. Und nachdem das letztere geschehen
war, ließ Günther Eckhof sich dieses große Vermögen
testamentarisch verschreiben.
Der Baron stand in seinen grübelnden Gedanken
an einen; Kreuzwege. Es widerstrebte ihn;, anzunehmen,
daß Renata jenen Betrug, an dessen Begehung sie
sicherlich unschuldig war, später entdeckt und in Rück-
sicht auf ihren Gatten verschwiegen haben sollte. Er
hätte am liebsten geglaubt, daß sein Kind ein argloses
Opfer der Ränke dieses unheimlichen Menschen gewor-
den sei, aber die Thatsachen ließen sich alsdann nicht
folgerichtig aneinander reihen. Es sehlte das Motiv
jener fluchtähnlichen Reise.
Wahrscheinlicher, ja fast gewiß erschien Folgendes:
Renata hatte, sei es durch Zufall, sei es in einer ver-
traulichen Stunde, die Entdeckung von der Unterschla-
gung des Kodizills gemacht. Ihre Achtung vor dem
Gesetze war zu groß, um die That gut zu heiße;;, die
Liebe zum Gatten zu tief, um denselben vor die Ge-
richte zu bringen. So war sie eine lästige Mitwisserin
geworden, deren Beseitigung der Professor wünschen
mußte.
Endlich trennte sie sich von den; Manne, an dessen
Seite sie nicht leben, den sie ebensowenig verrathen
konnte. Aber nach dieser Trennung wurde sie erst
recht gefährlich, denn mit dem allmüligen Erlöschen
der Liebe mußte die Stimme des Rechts sie eines Tages
zur Entdeckung des Betruges antreiben.
Hans v. Bukow glaubte plötzlich nicht mehr an einen
freiwilligen Tod Nenata's; sein Mißtrauen war einmal
wachgerusen, und die Vaterliebe stellte sich an dessen
Seite.
Er vergegenwärtigte sich zwar, daß nun; einen Brief
aufgefunden hatte, in welchem Renata ihre Absicht durch
unzweideutige Worte kundgab, allein dieses Schreiben
war an den Professor gerichtet, und niemals in die
Hände der übrigen Familiennntglieder gekommen; Eckhof
hatte dasselbe zwar als echt anerkannt, aber wer Testa-
mente unterschlägt, der ist auch im Stande, Briefe zu
fälschen und zur eigenen Entlastung zu benutzen.
Natürlich hatte er Helfer gehabt.
Es lag nahe genug, auf Grund jenes aus Amerika
stammenden anonymen Brieses auf die Person des
Helfers zu schließen; nur die Erinnerung an eine Schuld
konnte dieses angstvolle Flehen rechtfertigen, und nur
ein Verbrechen konnte wiederum hinreichenden Anlaß
geben, um eine Verbindung zwischen Eckhof und Eleonore
als unmöglich erscheinen zu lassen.
Es waren keine klaren Erwägungen, denen der
grübelnde Mann sich hingab, sondern er griff unsicher
in die Dunkelheit und zerrte an einem verschlungenen
Knoten.
Und dann hob er den Kopf und schaute rathlos in
den immer tiefer niedersinkenden Schatten der Bäume.
„Wenn Du zu mir reden könntest in dieser Stunde,"
sagte er leise, „dann würde es Heller um mich sein,
mein geliebtes Kind. Ach, warum sind unsere Sinne
so stumpf, daß sie nicht die Stimme der Todten zu
hören vermögen?"
Nur das Rauschen des Windes in den Zweigen gab
ihm Antwort, und er erhob sich müde von seinem Sitze.
Zu seinen Füßen leuchtete ein weißer Gegenstand;
er nahm ihn auf und hielt ihn in seinen Händen; es
war ein kleines längliches Päckchen, welches von einen;
schwarzseidenen Bande zusammengehalten wurde.
Als er die Umhüllung gelöst hatte, siel ihm eine
alte verbogene Brille in die Hände, und er glaubte sich
bei näherer Betrachtung zu entsinnen, daß er dieses
nützliche Geräth im Besitze der Tante Anna gesehen,

und daß die alte Dame sich vor einiger Zeit über den
Verlust desselben beklagt habe.
Er steckte den Fund in die Tasche und kehrte mit
rascheren Schritten in das Schloß zurück.
Sein Entschluß stand fest.
Am folgenden Morgen fuhr Baron Hans v. Bukow
in die Stadt. Er hatte weder Tante Anna noch Lore
irgend welche Mittheilungen über den Zweck dieser Reise
gemacht, aber den beiden Frauen fiel sein unruhiges
und zerstreutes Wesen auf.
Die alte Erzieherin war viel zu bescheiden, um sich
ungefragt in das Vertrauen ihres Herrn zu drängen,
aber sie empfand es doch schmerzlich, daß der Baron
die ferneren Schritte, welche sie natürlich ausschließlich
mit dem anonymen Briefe in Verbindung brachte, ohne
ihren Rath unternehmen zu wollen schien, und so ge-
schah es, daß dieser Tag auf Holgersholm mit einer
Verstimmung begann, welche in Eleonore den Wunsch
nach Veränderung weckte.
„Du kannst mich mitnehmen, Papa," sagte sie; „ich
werde meine Freundinnen besuchen oder Einkäufe machen,
und Dir bei Deinen Geschäften nicht im Wege sein;
am Abend treffen wir uns dann in; Gasthofe zur
Abfahrt."
Der Baron stimmte bei und sagte nur mit einem
Blick auf Tante Anna: „Gegen Besuche habe ich
natürlich nichts einzuwenden, Lore; die Einkäufe dagegen
verschieben wir wohl auf eine gelegenere Zeit; ich möchte
nicht, daß Dir der erfahrene Rath unserer alten Freundin
dabei abgeht."
Darauf hatte Eleonore versichert, daß die An-
schaffungen zur bevorstehenden Heirath noch hinreichend
Zeit hätten, und diese merkwürdige Auffassung schien
den Baron in seiner trüben Stimmung etwas zu
trösten, während Tante Anna nur bedenklich das Haupt
schüttelte. . . .
In der Stadt trennten sich die Wege von Vater
und Tochter. Hans v. Bukow begab sich zunächst auf
das Polizeibureau, und ließ sich bei dem ihm persönlich
bekannten Polizeidirektor melden.
Er trug demselben vor, daß ihm von anonymer
Seite Mittheilungen zugegangen seien, welche es nicht
als ausgeschlossen erscheinen ließen, daß das in Dunkel
gehüllte Ende Nenata's möglicherweise auf ein an der-
selben verübtes Verbrechen zurückzuführen sei.
„Ich kann Ihnen zunächst keine weiteren Andeu-
tungen machen, Herr Direktor," fuhr er in seiner ge-
lassenen und abwägenden Weise fort, „und ich bitte
Sie, vorderhand auch das Gesagte lediglich als
eine vertrauliche Mittheilung zu betrachten. Es ist
sehr wohl möglich, daß ich mich in meinen Voraus-
setzungen irre, oder daß man mich zu betrügen sucht;
Sie werden es indessen begreifen, daß ich als Vater
ein lebhaftes Interesse daran habe, jede Thatsache zu
erforschen, welche mit dem Ende meines Kindes zu-
sammenhängt, und wenn solche Nachforschungen nicht
bereits früher angestellt sind, so liegt das lediglich an
dem bisherigen Fehlen irgend welcher Verdachtsmomente.
Es würde ferner sehr natürlich sein, wenn ich die er-
forderlichen Ermittelungen meinen; Schwiegersohn, als
der nächstbetheiligten Person, überließe; derselbe ist in-
dessen, wie Sie wissen, auf einer längeren Reise nach
dem Süden begriffen, und da jene geheimnißvollei; An-
deutungen an meine Person gelangt sind, so null ich
die Vertretung des Professors Eckhof einstweilen und
bis zu dessen Rückkehr aus mich nehmen. Um das Ge-
sagte darnach zusammenzufassen, so handelt es sich zu-
nächst darum, durch eine geschickte und zuverlässige Per-
sönlichkeit in durchaus unauffälliger Weise alle Umstände
erforschen zu lassen, welche mit dem Ableben meiner
Tochter in Verbindung stehen, oder in Verbindung ge-
bracht werden können, insonderheit aber sestzustellen,
inwieweit die gerichtlichen Bekundungen der einzigen
Augenzeugin etwaige Bedenken hervorzurufen geeignet
sind; es versteht sich von selbst, daß die erforderlichen
Geldmittel in jeder Höhe zur Verfügung stehen, und
daß die Verschwiegenheit gewissenhaft gewahrt wird."
Der Polizeidirektor dachte einen Augenblick nach
und entgegnete dann: „Die Lösung der von Ihnen,
Herr Baron, gestellten Aufgabe wird um fo schwieriger
sein, als bereits ein volles Jahr seit jenen unglücklichen
Vorgängen verflossen ist, und dieselbe wird dadurch
nicht erleichtert, daß Sie die Veranlassung des von
Ihnen gehegten Verdachts nicht näher anzugeben ge-
neigt sind. Ich glaube indessen über eine Persönlich-
keit verfügen zu können, deren erprobte Geschicklichkeit
allen vernünftigen Anforderungen genügen wird, und
für deren Verschwiegenheit ich die volle Bürgschaft über-
nehme. Wenn Sie eine halbe Stunde warten wollen,
dann will ich Ihnen den betreffenden Geheimpolizisten
vorstellen, und Sie mögen dann selbst entscheiden, ob
die heikle Angelegenheit in seine Hände gelegt werden
soll."
Der Beamte warf eine Zeile auf's Papier, und
sandte einen Schreiber mit derselben fort. Nach un-
gefähr zwanzig Minuten wurde Herr Greif gemeldet.
Der eintretende Mann machte durchaus nicht den Ein-

druck eines schneidigen Polizeibeamten, sondern weit
eher denjenigen einer verstaubten Kanzlistenseele. Er
war mittelgroß, hager und etwas nach vorne gebeugt;
der kleine abgezirkelte und bereits ergraute Schnurrbart
gab seinem gelblichen Gesicht etwas Pedantisches, und
von den Augei; sah man nichts wegen eines Klemmers
aus blauem Fensterglas.
Er nahm denselben ab, zwinkerte gegen das Helle
Licht, murmelte eine kurze Verwünschung überdengrellen
Sonnenschein zwischen den Zähnen und setzte sich auf
den nächsten Stuhl.
Der Polizeidirektor trug ihn; den Fall in knappen
Worten vor, und frug ihn, ob er glaube, irgend etwas
mit Erfolg ausrichten zu können. Dann gab er, wäh-
rend Jener ohne zu antworten vor sich hinstarrte, den;
Baron einen Wink, trat in die Fensternische und sagte
leise: „Ich weiß, der Mann hat keinen günstigen Ein-
druck auf Sie gemacht; Sie zweifeln an seiner Be-
fähigung. Er will so scheinen, es ist seine Art. Er
sieht, hört und bemerkt Altes, aber es ist ihm bequemer,
die Leute das Gegentheil glauben zu machen. Jetzt
arbeitet er bereits einen vollständigen Plan aus, und
von seiner nächsten Antwort hängen Ihre Aussichten
ab. Ich glaube, er ist schon fertig."
Greif hatte sich in der That erhoben und betrachtete
die Zeiger feiner Uhr. Als die beiden Herren auf ihn
zutraten, sagte er nur: „In einer Stunde geht der Zug;
soll ich abfahren?"
Der Polizeidirektor nickte den; Baron zu.
„Fahren Sie," sagte dieser, und nahm einen größeren
Geldschein aus der Brieftasche.
Der Geheimpolizist schob das Papier in die Westen-
tasche, murmelte etwas von späterer Abrechnung und
war plötzlich zur Thür hinaus.
Hans v. Bukow blickte nachdenklich auf die Stelle,
wo der sonderbare Mann noch soeben gestanden hatte;
er dachte an die strammen zuversichtlichen Erscheinungen
der uniformirten Sicherheitsbeamten und frug zweifelnd:
„Wird der etwas ausrichten, Herr Polizeidirektor?"
„Er wird es," entgegnete Jener lächelnd. Und dann
fügte er ernster hinzu: „Wenn die Hand eines Ver-
brechers sich wirklich nach dem Leben Ihrer Tochter
ausgestreckt hat, Herr Baron, dann wird sie von heute
ab nicht mehr aushören zu zittern." . . .
Vom Polizeibureau begab sich der Baron gerade-
wegs zu Prätorius. Der Zweck, welchen er mit diesen;
Besuche verband, bestand darin, sich von den; Rechts-
anwalt die Echtheit der Urkunde bestätigen zu lassen,
und sodann die weiter einzuschlagenden Maßregeln zu
besprechen; er hatte keine Ahnung, daß die nächste Stunde
neue Verwickelungen, neue Räthsel, und eine vollständige
Erschütterung aller bisherigen Verdachtsmomente herbei-
führen werde.
Prätorius empfing seinen Klienten im Bureau und
theilte demselben sofort mit, daß Fräulein v. Bukow
vor einer Viertelstunde eingetroffen sei, um Tilly einen
Besuch abzustatten.
„Wenn Sie sich herauf bemühen wollen, Herr Baron,"
sagte er in einer Anwandlung liebenswürdiger Laune,
„dann werde ich das Vergnügen haben, Ihnen eine
Flasche von meiner neuesten Portweinsendung vorzu-
setzen —"
Das ernste, sorgenvolle Gesicht des Barons versetzte
ihn aber sofort in die seinem Wesen weit mehr ent-
sprechende Amtsstimmung.
„Ich sehe, daß Sie Geschäfte haben," unterbrach er
sich, und nahm vor seinem Schreibtische Platz; „lassen
wir also vorderhand die jungen Damen ungestört; es ist
Ihnen bekannt, daß meine Zeit unter allen Umständen
zu Ihrer unbeschränkten Verfügung steht."
Dann legte er das weißbärtige Kinn in die Hand,
und hörte schweigend den Bericht des Barons von
Anfang bis zu Ende.
Seine Züge blieben während desselben vollkommen
unbeweglich, und nur einmal, als Hans v. Bukow der
Verhandlung mit dem Polizeidirektor Erwähnung that,
schüttelte er leise mißbilligend den Kopf.
Dann nahm er das Wort: „Sie haben wohl daran
gethan, Herr Baron, daß Sie dem Polizeidirektor gegen-
über die Motive Ihres Verdachtes verschwiegen, und
insbesondere die Person Ihres Herrn Schwiegersohnes
vollständig aus dem Spiele ließen; aber Sie würden
noch vorsichtiger gehandelt haben, wenn Sie mich als
den langjährigen Berather Ihrer Familie zuerst mit
Ihrem Vertrauen beehrt hätten. Offen gesagt — halten
Sie einen Mann, wie Professor Eckhof, der Begehung
einer niedrigen Handlung oder gar eines Verbrechens
für fähig?"
„Ich habe es bisher nicht gethan," entgegnete der
Baron traurig, „aber die unzweifelhafte Echtheit der
Urkunde, welche ich hiermit in Ihre Hände lege, zwingt
mich, einen solchen Verdacht auszusprechen. Sie missen,
Herr Doktor, zu welchen Verirrungen der Glanz des
Goldes einen Menschen zu führen im Stande ist."
Prätorius nickte langsam: „Glauben Sie ferner,
Herr Baron, daß ich bei der Regulirung des Bukow'fchen
Vermögens meine Kenntnis; von der Existenz dieser
Urkunde verschwiegen haben würde?"
 
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