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Heft >6. Ilirrstorvte Fmnilren-Deitung. Zahrg. WZ.


vr. Joseph Zemp, schweizerischer Wundespräsident für 1895. (S. 383)

stellte mich vor die Lösung dieser Frage wie ein harm-
loser Mann, der soeben ans einem fernen Welttheil
eingetroffen ist, und nichts von alledem weiß, was die
ganze Stadt zu wissen behauptet, nämlich, daß Frau
Professor Eckhof durch Selbstmord ihr Leben im Wasser
geendet hat.
Wissen wir das? — Nein! Wir wissen nur, daß
Renata Eckhof verschwunden ist und daß sich eine Ur-
kunde in der Welt befindet, welche aussagt, daß dieses
Verschwinden infolge eines Selbstmordes erfolgt ist.
Ist diese Angabe begründet?
Eine halbe Stunde nach Ertheilung des Auftrages
fuhr ich mit dem Schnellzuge nach ***. Als geheimer
Polizeikommissar und den Behörden wohlbekannter Mann
hatte ich keine Schwierigkeiten zu überwinden, um eine
Einsicht in dieses seltsame Aktenstück zu gewinnen. Das-
selbe besteht aus einer protokollarischen Vernehmung der
ledigen Agathe Binder und in dem Schreiben der Frau
Eckhof, welches in der Kajüte des „Neptun" anfgefunden
worden ist.
Nachdem ich das zuerst erwähnte Protokoll einer-
sorgfältigen Durchsicht unterzogen hatte, konnte ich nicht
umhin, einige Thntsachen als außerordentlich merkwürdig

meinem Gedächtnisse einzuverleiben und in ihnen den
Anfang eines sonderbar verschlungenen Knäuels zu er-
blichem
Die erste Thatsache ist mehr psychologischer Natur.
Fräulein Agathe Binder ist zwar nur die Kammer-
zofe ihrer Herrin, aber sie betont ausdrücklich, daß eine
über ihren Stand hinausgehende Bildung sie zur Ver-
trauten ihrer Herrin emporgehoben habe. Ich will weder
diese Bildung noch die Vertrauensstellung anzweifeln,
ich glaube vielmehr an beides, aber was hat denn Frau
Eckhof ihrer Dienerin eigentlich anvertraut? Nach deren
eigener Angabe nichts weiter, als daß sie mit ihrem
Gatten nicht mehr Zusammenleben könne, mit dem-
selben Gatten, den sie nach Aussage der Zeugin zärtlich
liebte, an dessen Seite sie ein durchaus harmonisches
Dasein führte.
Man könnte, wie die Zeitungen ausgestreut haben,
an einen plötzlichen Irrsinn glauben, allein die Zeugin
Agathe Binder widerspricht dieser Annahme mit voller
Bestimmtheit, und es ist auch kaum denkbar, daß sie
den Wünschen und Neigungen einer Irrsinnigen ohne
Weiteres nachgegeben haben sollte. Es taucht vielmehr
der Verdacht auf, daß Herrin und Vertraute in einen:
Komplott gehandelt haben, dessen verborgene
Fäden und Endziele die Zeugin dem Gerichte
verschweigen zu müssen glaubte.
Aus einen Selbstmord kann dieses Kom-
plott nicht hinausgegangen sein, denn um
einen solchen zu begehen, bedarf es keines Ge-
hilfen; diese letzte That der Verzweiflung ge-
schieht in tiefer Einsamkeit.
Der zweite auffällige Punkt des Proto-
kolls besteht darin, daß Agathe Binder die
Ereignisse so gruppirt, daß jede weitere Zeu-
genschaft der dunkeln That nicht nur ausge-
schlossen ist, sondern daß dieser Ausschluß
auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um-
geben wird.
Die angeführten Thatsachen sind aber
nicht wahrscheinlich.
Von dem Augenblick, wo Frau Eckhof
das Schiff betrat, bis zu dem Moment, wo
ein Fall in's Wasser vernommen ward und
wo man den Hut der „Verunglückten" auf-
fischte, soll keines Menschen Auge die Dame
wieder gesehen haben. Das erscheint seltsam,
nnd wenn die Zeugin es damit erklärt, daß
ihre Herrin sich in die Kabine eingeschlossen,
Hilfeleistung nur aus der Hand ihrer Dienerin
entgegengenommen und endlich nach Einbruch
der Dunkelheit das Verdeck in demselben Mo-
ment betreten habe, wo sich nur ein einziger
Mann am Steuer befand, so können diese
Thatsachen ja wahr sein, aber sie lassen als-
dann ebenfalls auf ein Komplott schließen,
welches bis zum letzten Akte des Dramas aus-
gesponnen wurde.
Ich frage vergeblich nach dem Grunde und
gelange zu dein später zu begründenden Ver-
dachte, daß die Thatsachen nicht wahr sind. —
Inzwischen wandte ich mich zu dem Briefe
der Verschwundenen, dessen Echtheit von dem
Professor Eckhof anerkannt worden ist und

das Gebiet psychologischer Erörterungen begebe,
die Resultate meiner Nachforschungen bestehen
weniger in greifbaren Thntsachen, als viel-
mehr in Schlußfolgerungen, die jedoch eine
gewisse Logik für sich beanspruchen dürfen.
Um Euer Hochwohlgeboren in den Stand
zu setzen, eine Nachprüfung vorzunehmen, sehe
ich mich genöthigt, den ganzen Weg, welchen
ich gegangen bin, Schritt vor Schritt zu schil-
dern, und ich beginne daher naturgemäß mit
der Wiederholung des mir ertheilten Auf-
trags. Derselbe ging dahin, alle Umstände
zu erforschen, welche mit dem Ableben der
Frau Professor Eckhof in Verbindung stan-
den, insonderheit aber festzustellen, inwieweit
die gerichtlichen Bekundungen der einzigen
Airgenzeugin etwaige Bedenken hervorzurufen
im Stande seien.
Es gehört kein bedeutender Scharfsinn
dazu, um aus der Form dieses Auftrages zu
entnehmen, daß der Auftraggeber von einem
unbestimmten Mißtrauen erfüllt ist, welches
jedoch nur bis an die geheiligte Schwelte der
Behörden vorgeht. Einen solchen Standpunkt
muß ich als unfruchtbar und haltlos bezeich-
nen, sobald es sich um Erforschung der Wahr-
heit handelt; denn wer da weiß, auf wie
formalem und schematischem Wege eine Menge
unserer sogenannten Urkunden zu Stande
kommen, der thut, wenn er sich überhaupt auf
das Gebiet des Zweifelns begeben will, gut
daran, an allen Dingen zu zweifeln und
nur die eigenen Sinne das Material zur
Gedankenarbeit herbeitragen zn lassen.
Ich beschloß daher, diesen schwierigen, aber-
sicheren Weg emzuschlagen, und vorderhand
überhaupt nichts als feststehend nnzunehmen;
ich vereinfachte den etwas verzwickten und ver-
klausulirten Auftrag zu der schlichten und doch
vollkommen hinreichenden Frage. „Was ist
aus Frau Professor Eckhof geworden?", und

Der Schatten von Lolgersholm.
Roman

von
Friedrich Jacobsen.
(Fortsetzung.)
(Nachdruck verboten.)
Zehntes Kapitel.
Bericht des GeyeimpokiMen Greif.
Hochwohlgeborener Herr Baron!
erhalten hiermit eine eingehende Zusam-
menstellung aller derjenigen Erwägungen und
Maßregeln, welche ich angestellt und ergriffen
habe, um die mir gewordene Aufgabe in
thunlichst vollständiger Weise zu lösen. Ich
erbitte mir im Voraus Ihre gütige Nach-
sicht, wenn ich den üblichen Ton eines trocke-
nen Polizeiberichts verlasse und mich hier und da auf
, denn
 
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