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Heft 21.

498

Die eingefallene Brust des Buchhalters schien noch
hohler zu werden; er hatte den Kopf ganz auf die Seite
gelegt, und seine langen dünnen Arme hingen schlaff
herab. Er schluckte und würgte, als ob ihm etwas
Fremdes in der Kehle säße. Es war unmöglich, sich
ein erbarmungswürdigeres Bild hoffnungsloser Verzweif-
lung zu denken.
Da, noch ehe er die verlangte Erwiederung gegeben
hatte, wurde ihr Gespräch unterbrochen. Der Diener
trat ein und überreichte Löwengaard ein durch den be-
kannten rothen Streifen als „dringend" gekennzeichnetes
Telegramm. Mit ungeduldig raschen Bewegungen, wie
sie ihm selbst in Augenblicken der Erregung nur sehr
selten eigen waren, nahm der Spekulant das kleine
Papier in Empfang und faltete es auseinander. Wie
ein finsterer Schatten zog es über sein Gesicht, als er
die wenigen Worte las:
„Konnte gewünschte Frist nicht erlangen. Fällige
Rate voir hunderttausend Mark muß nm fünfzehnten
unbedingt voll entrichtet werden.
Doktor Hagenow."
Er warf die Depesche auf den Tisch und starrte
düster vor sich hin. Die Anwesenheit des Buchhalters
war ihm für den Augenblick offenbar ganz aus dem
Gedächtnis; entschwunden. Erst als Jener wieder von
seinem trockenen, kraftlosen Husten befallen wurde, fuhr
Löwengaard aus dem selbstvergessenen Brüten empor und
kehrte ihm sein Gesicht zu.
„Nun? — Sind Sie noch immer unentschlossen? —
Ich denke, Sie hätten Zeit genug gehabt, mit Ihrem
Gewissen zu Rathe zu gehen."
So stahlhart und schneidend scharf war der Klang
seiner Stimme, so mitleidlos drohend bohrten seine
kalten Augen sich in Helmbrecht's zuckendes Gesicht, daß
der Unglückliche wohl hätte dell Muth eines Helden
haben müssen, um sich dem gebieterischen Willen dieses
Mannes, der so viel stärker war als er, noch länger
zu widersetzen.
„Ich bin mitAllem einverstanden, Herr Lölvengaard,"
sagte er leise und traurig, „es bleibt mir ja doch nichts
Anderes übrig."
Zwei Minuten darnach verließ er das Haus, völlig
niedergedrückt von der Gewißheit, daß er verurtheilt
sei, die unsichtbare Sklavenkette nachzuschleppen bis an
das Ende seines armen, mühseligen Lebens.
Der Andere aber, der oben in seinem prächtigen
Arbeitszimmer zurückgeblieben war, befand sich offenbar
ebensowenig in der Stimmung eines Siegers. Das
Telegramm seines nach Hellstadt entsandten Rechts-
anwalts hatte ihn mit der ganzen schwere einer furcht-
baren Enttäuschung getroffen, und Helmbrecht's Mit-
theilung über die unheimlichen Gerüchte, die in Bezug
auf seine Vermögensverhältnisse umliefen, war sicherlich
nicht darnach angethan, seine Sorge zu verringern.
Kaum jemals in seinem wechselvollen Leben hatte die
Zukunft ihm ein so unfreundliches Gesicht gezeigt, wie in
diesen letzen Tagen, wo Alles sich zu verewigen schien,
um seine kühn angelegten Pläne zu durchkreuzen.
Noch aber war er sehr weit davon entfernt, den
Muth zu verlieren; noch fühlte er sich stark genug, all'
dieser Widerwärtigkeiten Herr zu werden und das feind-
selige Schicksal nach seinen: Willen zu zwingen. Wenn
der eine Ausweg durch unüberwindliche Hindernisse
versperrt war, galt es eben nur, einen anderen zu er-
schließen, und sein erfinderischer Geist hatte ihn bisher
in solchen Situationen ebensowenig im Stich gelassen,
als die Gunst des Zufalls, der sich immer zur rechten
Zeit als mächtiger Bundesgenosse eingestellt hatte.
Der Diener brachte ihn: die eben eingelaufenen
Postsachen, und Löwengaard's erster Blick fiel bei der
flüchtigen Musterung auf ein Streifband, das den fett
gedruckten Titel der darin enthaltenen Zeitung deutlich
erkennen ließ.
„Montags-Post" las er, und darunter in zierlicheren
Buchstaben: „Herausgegeben und redigirt von lM. Mari-
milian Geißler." Er zerriß den Papierstreifen, der das
Blatt umschloß und trat an's Fenster, um raschen Blicks
seinen Inhalt zu überfliegen.
„Bei der Lektüre meiner ersten Nummer werden
Sie sich vermutlich recht lebhaft an unsere heutige
Unterredung erinnern," hatte Doktor Geißler bei seiner
letzten Verabschiedung in sehr nachdrücklichem Tone ver-
sichert, und Julius Löwengaard schien trotz aller Ge-
ringschätzung, die er dem Manne an den Tag gelegt
hatte, in diesem einen Punkte nicht an der Zuverlässig-
keit'seines Wortes zu zweifeln.
Er brauchte nicht lange zu suchen; denn der anonyme
Absender des Streifbandes hatte die Gefälligkeit gehabt,
einige Stellen im Texte der Zeitung mit dicken Blau-
stifträndern zu umziehen. Da fand sich zuerst eine
kurze Notiz über die unterirdischen Lager von Kalisalzen,
die angeblich in der Nähe des Städtchens Hellstadt ent-
deckt sein sollten.
„Allem Anscheine nach handelt es sich hier nur um einen
neuen Versuch, auf die Leichtgläubigkeit und Gewinn-
sucht der großen Masse zu spekuliren. Man versichert
üns'von fachmännischer Seite, daß das Vorhandensein des
werthvollen Minerals durch die bisherigen Bohrversuche

D a s Buch f ü r All e.
noch keineswegs sicher nachgewiesen sei, und daß man
auf eine erhebliche Ausbeute selbst im günstigsten Falle
nicht zu rechnen habe. Trotzdem zweifeln wir nicht,
daß eine Aktiengesellschaft zur Hebung der vermeint-
lichen Schätze demnächst zu Stande kommen wird. Hat
doch Herr I. L., ein in der Aufstellung derartiger
Mausefallen vielerfahrener Mann, seine Hand rm
Spiele. Immerhin dürfen nur den: betreffenden Kon-
sortium schon heute versprechen, daß wir das famose
Projekt im Auge behalten und unseren Warnungsruf
zur rechten Zeit wiederholen werden."
Julms Löwengaard lächelte. Dieser erste Pfeil hatte
offenbar nicht in's Schwarze getroffen. Wenn der be-
leidigte Doktor keine besseren Waffen für die Befriedi-
gung seiner Rachegelüste nufzutreiben wußte, blieb er
jedenfalls ein ziemlich harmloser Gegner. Aber da
war ja noch eine andere Stelle, auf die er mit seinem
Blaustift die Aufmerksamkeit des Empfängers hatte hin-
lenken wollen, ein langer Artikel mit der auffällig gedruck-
ten Ueberschrift: „Ein musterhafter Vormund", und das
Lächeln ivar mit einem Male von Löwengaard's Antlitz
weggewischt, als er nur die ersten Sätze gelesen hatte.
„Durchaus vertrauenswürdigen Duellen," hieß es,
„verdanken wir die Kenntnis; einer pikanten kleinen
Familiengeschichte, die auch für unsere Leser sicherlich
nicht ganz ohne Interesse sein dürfte. Ihr Held ist
eine stadtbekannte, heute noch allgemein geachtete Per-
sönlichkeit, deren Name für diesmal noch verschwiegen
hleiben mag, obgleich wir durch unser reichhaltiges
Material wohl in den Stand gesetzt wären, ihn ohne
jede Besorgnis; vor etwaigen strafrechtlichen Folgen zu
nennen. Der Mann verwaltet als testamentarisch be-
stellter Vormund das große Vermögen seines elternlosen
Neffen, eines Jünglings von nahezu einundzwanzig
Jahren. Zwar sagt ihm die Welt einen bedeutenden
eigenen Reichthum nach; doch Eingeweihte behaupten,
daß er sich während der letzten Zeit etwas unvorsichtig
in verschiedene äußerst gewagte Unternehmungen ein-
gelassen habe, und es gibt sogar Schwarzseher, die trotz
alles äußeren Glanzes an die Möglichkeit einer Kata-
strophe glauben. Wie es sich nun auch in Wahrheit damit
verhalten mag, jedenfalls würde dem Betreffenden eine
nach vielen Hunderttausenden zählende Erbschaft in naher
Zukunft überaus gelegen kommen, und es ist als etwas
Menschliches wohl zu begreifen, daß er einen frühzeitigen
Tod seines Neffen, dessen Vermögen ihm als dem nächsten
lebenden Verwandten zufallen müßte, unter solchen Um-
ständen nicht gerade als ein Unglück ansehen würde.
Wenn aber ein energischer und thatkrüftiger Mann den
lebhaften Wunsch hegt, daß Jemand, der seinem Glück
im Wege ist, den Platz räumen möge, so wird er ver-
muthlich nicht ganz unthätig bleiben, wenn ihm be-
queme Gelegenheit geboten ist, ein wenig zur Erfüllung
dieses Wunsches beizutragen. Wir befinden uns nicht
mehr in den schönen Zeiten der italienischen Renaissance,
wo vergiftete Briefe, todbringende Drangen und Ver-
derben hauchende Blumensträuße gewissermaßen zu den
alltäglichen Dingen gehörten; aber für einen findigen
Kopf ist auch hellte die Möglichkeit noch nicht ganz aus-
geschlossen, unter vorsichtiger Umgehung der Kriminal-
polizei und des Staatsanwalts dem Knochenmanne seine
Arbeit zu erleichtern. Der junge Mann, um den es
sich in unserer wahrhaften Geschichte handelt, ist von
Haus aus schw ächlich und würde auch unter gewöhnlichen
Verhältnissen vielleicht nur geringe Anwartschaft auf
ein langes Erdendasein haben. Er könnte indessen
immerhin alt genug werden, um sich zu verheirathell
und eine Nachkommenschaft zu hinterlassen, deren Existenz
selbstverständlich alle Hoffnungen des Oheims zu Schanden
machen würde. Das zu verhindern, muß dem wackeren
Manne also besonders am Herzen liegen, und so hat er-
sieh denn eine ausgezeichnete Methode zurecht gemacht, um
den Sohn seines verstorbenen Bruders sittlich und körperlich
zu Grunde zu richten. Seit dem Tage, da er ihn als
halbreifen Jüngling in sein Haus ausgenommen, hat
er ihm nicht nur jede erdenkliche Freiheit gewährt, in
der sicheren Erwartung, daß der junge Mann die vor-
zeitige Selbstständigkeit nach Kräften mißbrauchen werde,
sondern er hat auch seineil Ausschweifungen auf die
mannigfaltigste Weise Vorschub zu leisten gewußt. Wir
könnten dell Nachweis führen, daß die Besitzer einiger-
übel beleumundeter Weinstuben und Vergnügungslokale
von dem ehrenwerthen Herrn geradezu angewiesen sind,
seinem Neffen unbedenklich jeden beliebigen Kredit zu
gewähren, und man erzählt uns noch einige weitere
charakteristische Einzelheiten, deren Veröffentlichung wir
uns indessen für eine andere Gelegenheit aufsparen
wollen. Nur eines hübschen kleinen Zuges in diesem
anmuthigen Familienbilde noch möchten wir Erwähnung
thun, weil er die liebevollen Absichten des redlichen
Vormundes ganz besonders deutlich erkennen läßt. Immer
darauf bedacht, das Herz seines Neffen zu erfreuen,
überraschte er ihn vor Kurzem durch das fürstliche Ge-
schenk eines prächtigen Reitpferdes voll geradezu tadel-
loser Schönheit. Daß er sich zum Ankauf dieses Pferdes
erst entschlossen hatte, nachdem er von dem Vorbesitzer
und von verschiedenen anderen Seiten vor seinem heim-
tückischen Eharakter gewarnt worden war, hielt er dabei

allerdings nicht der Mittheilung werth. Und als man
ihm wenige Tage nachher den armen jungen Mann
von einem Spazierritt schwer verletzt rn's Haus brachte,
da wußte er sogar mit unübertrefflicher Meisterschaft
den Ueberraschten und zum Tode Erschrockenen zu spielen.
Für diesmal allerdings war sein Plan noch nicht ganz
gelungen. Man hat sich in einigen öffentlichen Ball-
lokalen und an anderen vergnüglichen Orten bereits
durch den Augenschein davo>l überzeugen tonnen, daß
der Verletzte von seinem Schmerzenslager erstanden ist,
ohne dauernden Schaden an seiner Gesundheit davon zu
tragen. Bei der bekannten Erfindungsgabe des muster-
haften Vormundes aber zweifeln wir nicht, daß er dem-
nächst auf ein neues, sicherer wirkendes Mittel verfallen
wird, um den Fälligkeitstermin der fetten Erbschaft ein
wenig vorzurücken. Und wir werden nicht unterlassen,
unseren Lesern dann auch den Schluß des Familienromans
mitzutheilen, von dem wir übrigens für gewisse Fülle noch
ein zweites interessantes Kapitel in Bereitschaft halten."
Julius Löwengaard riß die Zeitung in Fetzen und
schleuderte die zusammengeballten Stücke in den Papier-
korb. Selbst Maximilian Geißler würde sich vielleicht
einer leisen Regung des Grauens nicht erwehrt haben,
wenn er in diesem Augenblick das Gesicht des Mannes
gesehen hätte, gegen den er aus sicherem Hinterhalt
seinen meuchlerischen Hieb geführt. Kein Ausruf der
Ueberraschung, kein Laut des Ingrimms war von Löwen-
gaard's Lippen gekommen; aber es war nichtsdestoweniger
etwas unheimlich Wildes in seinem stummen Zorn. Die
drohend zusammengezogeneu Brauen, das eckige Kinn,
das sich vorgeschoben hatte wie der Unterkiefer eines
zähnefletschenden Raubthiers, die verzerrten Züge und die
dick aufgeschwollenen Adern, die als bläuliche Stränge
unter der Schläfenhaut hervortraten, dies Alles gab
dem mächtigen Kopfe etwas von einer Mörderphysio-
gnomie. Und während Löwengaard mit starken Schritten
im Zimmer auf und nieder ging, blieben seine Fäuste
krampfig geballt, als seien sie bereit, einen unsichtbaren
Gegner mit wuchtigem Schlage zu vernichten.
Viertelstunden vergingen, ehe sich der leidenschaft-
liche Sturm in seinem Innern zu sänftigen schien. Zu
einem bestimmten Entschluß aber hatte er sich offenbar
auch jetzt noch nicht durchgerungen, denn der geschäfts-
mäßig höfliche Brief, der den Doktor Maximilian
Geißler zu einer Besprechung einladen sollte, war noch
nicht zur Hälfte fertig, als Löwengaard ihn wieder
zerriß und die Feder bei Seite warf.
„Nein!" knirschte er. „Ich kann nicht! Lieber
das Schlimmste, als wehrlos in den Händen dieses
Halunken!"
Er klingelte und fragte den Diener nach seinen:
Neffen. Als er erfuhr, daß Cäsar vor einer Viertel-
stunde nach Hause gekommen sei, lies; er ihm sagen,
das; er ihn unverzüglich zu sprechen wünsche, und schon
nach Verlauf weniger Minuten trat der Student, der
sehr blaß und übernächtig nussah, zu ihm in's Zimmer.
„Ich wollte mich eben ein bischen hinlegen, Onkel,
ich habe nämlich schauderhafte Kopfschmerzen, und wenn
es nicht gerade sehr dringend ist, was Du mir sagen
nullst —"
„Ja, es ist dringend," unterbrach ihn Julius Löwen-
gaard in einen: so ernsten und strengen Tone, wie ihn
der junge Mann kaum jemals von ihm gehört. „Deine
unverantwortliche Lebenssührung zwingt mich, endlich ein-
mal meine ganze Autorität geltend zu machen. Du mußt
selber einsehen, Cäsar, daß es nicht so weitergchen kann."
Der Student ließ sich seufzend in einen Lehnstuhl
sinken und drückte die Hand gegen die schmerzende Stirn.
„Nein, Onkel, Du hast Recht, es kann so nicht
weitergehen. Aber möchtest Du Dich nicht für heute
mit diesen: feierlichen Versprechen begnügen? Ich bin
augenblicklich wahrhaftig schon zur Genüge gestraft. In
meinem ganzen Leben falle ich nicht wieder auf eine
Bowle aus Sekt und englischem Porter hinein."
„Ist es jetzt auf den Korpskneipen Brauch geworden,
derartiges Teufelszeug zu trinken?"
„Das gerade nicht — und ich wollte, das; ich auf
der Kneipe gebliebei: wäre und mich nicht wieder von
den: Doktor hätte mitschleppen lassen. Er ist ja ein
ganz famoses Huhn — wenn er nur nicht so unmensch-
lich viel vertragen tonnte."
„Was für ein Doktor ist das?"
„Na, Du kennst ihn ja, Onkel — der Schriftsteller
Maximilian Geißler — ein feiner Kopf, nicht wahr?
Und dabei der prächtigste Gesellschafter, den man sich
denken kann; besonders, wenn man zu Zweien hinter
der Flasche sitzt."
„Von dieser Art also sind Deine Kumpane? So
weit schon ist es nut Dir gekommen? Du hast sogar
die Empfindung dafür verloren, wie schmachvoll es für
Dich ist, Dich mit einen: Subjekt dieser Gattung ein-
zulnssen?"
Ganz verwirrt blickte Cäsar in das strenge Gesicht
seines Pormundes.
„Ist das Deii: Ernst? Vielleicht verwechselst Du
meinen Doktor mit irgend einer anderen Persönlichkeit.
Geißler verkehrt doch als Hausfreund in den allerbesten
Familie::. Auch bei Sievekings geht er eii: und aus.
 
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