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Schafe seines Herrn gelöst, und so war er in die Haide
hinaus geflohen, um der Strafe zu entgehen. Er raubte
nicht und stahl nicht — er erschien nur bewaffnet in
den verlassenen Bauerngehöften, wenn er hungrig und
durstig war. Dann setzte man ihn: die besten Speisen
und die besten Weine vor, ja man gab ihm manchmal
auch aus freiem Antriebe etwas Geld — und dann zog
er wieder weiter, ohne die Wüte zu belästigen. Das
Leben gefiel ihm über alle Maßen, und er nahm es
nicht schwer, daß manchmal die Gendarmen auf ihn
Jagd machten. Ja, es schreckte ihn auch das neu ver-
kündete Standrecht nicht.
Der alte Jakob freilich meinte, es wäre für ihn doch
klüger, in das nächste Komitat überzusiedeln; der schmucke
Bursche aber lachte und sagte, er habe Esongrad zu
lieb, er könne sich nicht von dieser Gegend trennen.
In dem Schänkzimmer kauerte noch eine alte Zigeu-
nerin, die der Winter hierhergetrieben, und die aus
Mitleid ein Plätzchen nm warmen Ofen erhalten hatte.

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Plötzlich fiel es dem jungen Komltzs Vincze ein, sich
von der Alten wahrsagen zu lassen.
„Komm' her, Hexe," sagte er wenig höflich, „und
lies mir aus der Hand das Schicksal!"
Die Alte humpelte herbei und studirte eine Weite mit
wichtiger Miene die innere Handfläche des Burschen.
Dann that sie einen langen Zug aus ihrer kurzen,
schmutzigen Thonpfeife und sagte: „Litte Dich vor dem
Esongrader Fasching!"
Der Bursche lachte.
„Sie weiß auch schon," sagte er zum alten Jakob,
„daß das Standrecht verkündigt ist. Ja, das wird ein
lustiger Fasching in Esongrad werden. Mancher wird
in der Luft tanzen, wenn der Wind den Galgen schüttelt.
Aber ich, ich fürchte mich nicht, braune Here!" . . .
Die Zeit rückte vor. Es war schon neun Uhr vor-
bei. Komlös Bincze erhob sich und steckte die Pistole
in den Gürtel, die vor ihm auf dem Tische lag.
„Wohin in so später Rächt?"

„Habe noch einen weiten Weg," sagte der Betpar.
„Ein schönes Mädchen erwartet mich."
„Gute Unterhaltung," brummte der Schänkwirth,
während er den Burschen in's Freie begleitete. Es strich
ein scharfer Wind über die Haide und rauschte im
Röhricht des nahen Theißufers in schauriger Weise.
Der junge Mann aber schwang sich wohlgemuth in den
Sattel und sprengte ohne Gruß davon.
Der Schänkwirth kam eben rechtzeitig in die Stube
zurück, um die Zigeunerin dabei zu überraschen, wie sie
einen Zinnlöffel vom Tische in ihrer Tasche verschwinden
lassen wollte.
Im Augenblick hatte ihr der alte Jakob den Löffel
entrissen.
„Tas ist der Dank für die gastfreundliche Auf-
nahme? Hinaus, Du Hexe!"
Damit versetzte ihr der noch immer kräftige Mann
einen Stoß, daß sie durch die offene Thür in den Hof
hinausflog.

Emanuel HchMöert von Savoyen, Kerzog von Aosta, und seine Verkokte, WrinzeMn Helene von Hrkeans. (S. 535)


„So, nun kannst Du Dich im Schilfrohr wärmen!"
sagte er, während er die Thür hinter ihr schloß.
Die alte Zigeunerin erhob sich nur mühsam aus
dem Schnee. „Ich will Dir einheizen, altes Laster!"
zischte sie kaum hörbar vor sich hin. Dann schlich sie
zum Stalle, machte sich beim Stroh zu schaffen und
suchte das Weite. Als sie sich nach einer halben Stunde
umwandte, ivar der Horizont grell beleuchtet. Die
Csarda „Zum Wnsserschlauch" brannte lichterloh, und
der Wind fachte die Flamme an. Die Zigeunerin lachte
heiser und schritt rüstiger weiter, als vorher.
Der Betpar ritt über die Haide und achtete nicht
auf den Sturmwind. Er ritt mehr als zwei Stunden,
bis er Csongrad erreicht hatte. Er wich der unter den
obwaltenden Verhältnissen höchst gefährlichen Stadt
keineswegs aus, sondern betrat kühn das Wirrnis; ihrer
engen Gassen. In einem dunklen Gäßchen band er sein
Pferd an einem Baumstamm, schwang sich über einen
Zaun, durchschritt einen Gemüsegarten und drang durch
eine kleine Gartenthür in den Park des Stadtrichters.
Er schien den Weg sehr gut zu kennen und traf pünkt-
lich beim Häuschen ein — die schöne Boriska hatte kaum
drei Minuten gewartet.

Sie umschlang ihn mit ihren weißen Armen, als er
in dem Gartensalon erschien, und er drückte sie zärtlich
an sich. Sie waren einst Nachbarn gewesen, er war
guter Leute Kind, wohlerzogen, sogar besser als ge-
wöhnlich, und sie hatten als Kinder zusammen gespielt.
Sie hatten sich lieben gelernt, als sie älter wurden,
und wenn sie auch das Schicksal weit auseinanderführte,
so hingen sie doch mit jugendlicher Gluth aneinander.
Er hatte zu spielen begonnen, sodann immer im
Glauben an den Rückgewinn'des Verlorenen die Habe
der Eltern stark angegriffen. Auch die eines Verwandten.
Er gerieth in allerlei abenteuerliche Gesellschaft, nicht
wenige Edelleute, höhere Namen und Personen waren
in. der Gesellschaft der abenteuernden „8/wA6n^ loZö-
n^slW, der sogenannten „armen Bursche" zu finden.
In dunkler Nacht trafen sich die Beiden manchmal
auf einige Minuten in dem öden Pavillon, um die
Sehnsucht des Wiedersehens zu stillen.
„Ich zittere für Dich!" flüsterte die schöne Boriska.
„Du mußt fort! Ehe das Standrecht nicht aufgehoben
ist, hat mein Gemüth keine Ruhe. Unser Wiedersehen
kann Dir das Leben kosten, eS kann Dein Tod sein!"
„Ich sterbe gerne, wenn ich Dich nur sehen kann!
Soll ich so jung dem Tode zur Beute werden, so gönne

mir doch jetzt, ohne Dual Dich an's Herz zu drücken.
Ich habe Dich noch für diesmal bitten lassen und bin
gekommen, noch einmal den Kuß von Deinen Lippen —"
„Und hast Dich deshalb so großer Gefahr ausge-
setzt?"
„Fürchte jetzt wenigstens nicht, so wie ich es thue.
Sie fangen mich nicht ein. Ich entschlüpfe ihnen, und
wenn mich alle ihre Spürhunde umstellen Aber komme,
was da komme; ich habe Dich noch einmal geküßt; das
ist Süßigkeit für jeden Rest des Lebeiw,!"
Ihre Lippen vereinigten sich zu einem langen Kusse.
Sie hörten in diesen: Augenblicke nichts, als das Pochen
Ihrer Herzen. Ein Mäuslein huschte über den Boden
und nagte an den zerrissenen Tapeten der Wand.
Sie hörten es nicht.
Da erscholl Hundegebell im Garten. Boriska riß
sich aus den sie umschlingenden Armen los.
„Es kommen Leute!" flüsterte sie. „Und oben wird
man mich vermissen. Ich bitte Dich bei all' Deiner
Liebe, mich nicht solcher Dual und Gefahr wieder aus-
zusetzen. Du weißt, was ich leide!"
„Boriska, Dich nicht wiedersehen? Soll es heute
wahrhaftig zum letzten, zum allerletzten Male sein?"
Sie schwieg.
 
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