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582

Plötzlich räusperte er sich, wandte sich rasch zur
Seite und sah seinen Bruder flüchtig, aber scharf an.
„Alle Wetter!" Er ließ den letzten Brief zur Erde
fallen, indem er aufsprang.
Er fühlte zu wohl, was in seines Bruders Seele
eben jetzt vorging, um nicht mit vollster Theilnahme
dessen Rechte zu ergreifen. „Was soll geschehen?"
„Nichts!" sagte der Doktor heftig. „Nichts! Was
soll denn geschehen müssen, können, dürfen? Das möchte
ich wissen!"
„Ich glaubte, Du kämest zu mir, um meine Ansicht
zu hören," erwiederte Egbert mit überzeugendem Ernst.
„Unter alten Umständen muß die Sache irgend eine
Folge haben. Marga's Erbberechtigung steht außer
Frage."
„Erbberechtigung?" ries der Doktor mit einem ihm
ganz fremden harten Lachen. „Von Jenen da in Toulon,
die sich mit wahrer Wuth von ihren Eltern losgesagt
und von der Epistenz dieses Kindes bisher so wenig ge-
wußt haben, so wenig für sie gethan haben, als ich für
irgend —"
„Ich bitte Dich, Emil," siel Egbert etwas ungedul-
dig ein, „wir können doch hier nicht mit Gefühlen, und
untren es die allerberechtigtsten von der Welt, gegen den
Buchstaben der Gesetze ankümpfen! Ueberlege doch erst!
Marga hat volle Erbberechtigung —"
„Sie braucht sie nicht! Keinen Pfennig braucht sie!"
siel der Doktor ein. „Und soll ihn nicht berühren.
Was sind ihr diese Leute? Und was ist sie ihnen?
Wäre sie verhungert bei ihren Ziegen, die Gesellschaft
drüben würde keinen Finger darob gerührt haben. Sie
sollen fortfahren, was sie ohne Zweifel thun werden,
Margarethe Fielding's Tochter zu hassen, — aber ab-
finden mit irgend etwas, und wäre es zehnmal mit den:
gesetzlichen Erbe ihres Vaters, das sollen sie nicht!
Dagegen setze ich mich zur Wehr kraft meiner Autorität
als ihr Erretter und Adoptivvater."
Er ließ dem Professor keine Zeit zu irgend einem
Einwand, sondern fuhr nur erregter fort: „Mit ihrer
Geringschätzung sollen sie mir von diesem Kinde fern-
bleiben, das schwöre ich Dir! Davor und vor ihrem
Haß werde ich Marga zu schützen wissen. Das wäre
die Höhe der Grausamkeit, dieses unschuldige, harmlose
Wesen, welches der ganzen Gesellschaft nicht einen Trunk
Wasser verdankt, in ein unabsehbares Meer von Un-
gewißheit, Furcht und Bitterkeit zu stürzen! Und warum?
Um ein Almosen zu erpressen, das sie nicht braucht.
Sie war glücklich als mein Kind. Und so soll's bleiben.
Der nutzlose Zwiespalt und die Scham, sich von ihren
französischen Verwandten mißachtet zu sehen, sollen ihr
erspart bleiben. Ich dulde nicht, daß man sie über
Dinge ausklürt, welche keinen anderen Werth für sie
haben können, als ein erschüttertes Selbstgefühl. Ich
meine, sie hat genug durch ihrer Eltern Zwist mit der
Familie gelitten."
Der Professor, mit gekreuzten Armen gegen seinen
Schreibtisch gelehnt, hatte diesen Ausbruch ruhig über
sich ergehen lassen. Jetzt schüttelte er mißbilligend den
Kopf. „Du vergissest bei allen diesen wohlberechtigten
Einwänden, daß wir es hier nicht allein mit Deinen,
sondern in gleichem Maße mit Marga's Rechten zu
thun haben. Und diese, gleichviel aus welchen Gründen,
unterdrücken, auch wenn die Entscheidung Dir ganz
allein zustünde, hieße einen Akt der Selbstsucht, der
Ungerechtigkeit ausüben."
„Marga?!" rief der Doktor mit abweisender Gering-
schätzung.
„Marga ist ein Kind," erwiederte Egbert. „Und
als solches gar nicht in der Lage, jetzt schon allein und
selbstständig zu beurtheilen, inwiefern sie es nicht wün-
schenswerth finden wird, die Ansprüche ihres Vaters zur
Geltung gebracht zu haben. Das sind Zukunftssragen
von allerhöchster Wichtigkeit für die zumeist Betheiligten.
Sie einfach zu unterdrücken, liegt gar nicht in Deiner
Macht, auch nicht in Deiner Fürsorglichkeit. Diese Briese
stellen Margarethe, die Komtesse d'Armont, auf den
Boden des Rechtes, unter den Schutz oder den Beistand
der Gesetze."
„Nein, sage ich Dir!" rief Emil Frank, von der
unumstößlichen Wahrheit dieser Worte im tiefsten Innern
selbst überzeugt. „Mein Haus —"
Egbert schnitt ihm mit Ungeduld das Wort ab.
„Du hast es für richtig gehalten, das Kind von seinem
Jugendelend und eurer Stellungnahme in Kenntnis; zu
setzen. Dieser Fall ist dem gegenwärtigen analog.
Daß Du damals ihr Schicksal fester damit an das
Deine kettetest, während diese neue Aufklärung vielleicht
eine Lockerung herbeisühren könnte, darf dabei gar nicht
in Betracht kommen, oder Deine Pflicht diesem Kinde
gegenüber bliebe weit hinter dem Eigennutz zurück."
„So sprichst Du!" rief der Doktor mit seltsamer
Bitterkeit. „Du, dem sie nichts ist! Dein Luise sie
nicht an's Herz gelegt hat in ihrer letzten Stunde!
Demffie nicht des Alters Trost und Freude bedeutet!"
„Sei nicht ungerecht, Emil! Ich schätze sie hoch und
habe sie lieb um Deinetwillen. Aber wer sagt Dir
denn in aller Welt, daß Viktor's und Margarethe's
Tochter nicht lieber Komtesse d'Armont heißen möchte,

D a s V u ch f ü r A l l ö.
als Marga Frank; zumal wenn ihr Herz, wie ich leider
glaube, nach dem was ich sah, diesem Leichtfuß, ihrem
Vetter Lothar, zugethan ist? Darauf kannst Du mir
wohl keine Antwort geben. — Noch Eines! Wer bürgt
dafür, daß dieses Geheimnis;, welches nur ganz zufällig
Geheimnis; geblieben ist, nicht durch irgend welchen Zu-
fall in andere Hände gelangt? Du würdest wenigstens
von nun an, wie mir scheint, diesen Zufall nie aus den
Augen verlieren dürfen und wohl zusehen, daß kein
Anderer Deiner Kleinen ihre Abstammung enthülle.
Und dann," fügte er hinzu, seines Bruders Hand er-
greifend und überzeugend drückend, „gehe der Frage
Marga's aus dem Wege: warum hast Du mir nichts
davon gesagt?"
„Die Erregung, der Zwiespalt —" murmelte der
Doktor.
Egbert zuckte die Achseln. „Ist sie das, was wir
glauben, so liegt auch nicht die mindeste Gefahr vor,
daß sie Dir entfremdet werde. In: Gegentheil, der
ungerechte Has; der d'Armonts, welcher sie zurückstößt,
führt sie nur fester in Deine Arme. Du sollst nur
ihre äußeren Interessen wahren, das ist Alles. Du
lebst ja doch nicht ewig. Und wie wolltest Du Dich
mit diesem Geheimnis; dem einstigen Gatten Deiner
Kleinen gegenüber verhalten? Und seinen Ansprüchen?
Denn das kannst Du Dir wohl allein sagen, das; eine
solche Eventualität bald eintrcten wird bei einem so
liebreizenden Geschöpf."
„Sehr wahr — sehr wahr," murmelte der Doktor,
ganz zerschmettert.
„Das Eine mußt Du Dir nur klar machen, Du
bleibst ihr Schutz und Schirm, der alle Kränkungen
von Seiten der d'Armonts auffängt. Anerkannt oder
nicht anerkannt, bist Du ihr Anwalt. Gerade das, was
jetzt nicht entscheidet, wird desto schwerer in die Wag-
schale fallen: Deine Autorität, Deine Verdienste. Laß
doch die d'Armonts in ihrer Abneigung sich öffentlich
und gerichtlich von Marga lossagen! Es ist gut, wenn
die Sache, die nun einmal doch nicht aus der Welt zu
schassen ist, möglichst schnell zum Klappen gebracht wird.
Dann erst wirst Du das Kind völlig und uneingeschränkt
besitzen. Jetzt nicht und nie mehr, bis Du Dich ent-
schlossen hast, gewissenhaft zu handeln an ihr."
„Gut! Sei's!" sagte der Doktor, das ihm entgegen-
gehaltene Päckchen langsam ergreifend und nachdenklich
in seine Brusttasche schiebend. „Ich bin im Reinen
mit mir. Ich werde die Angelegenheit nach Toulon
berichten. Ich werde diesem grundfalschen Pflichtgefühl
Ausdruck geben." Er lächelte spöttisch. „Grundfalsch,
sage ich, weil es von meiner Selbstsucht, welche Du
soeben Marga gegenüber verdammtest, ein gutes Theil
in sich trägt. Ei, ja wohl, Bruder Egbert! Um mein
Gewissen zu entlasten, reiße ich das Kind aus seinem
glücklichen Jugendtraum, stürze es in Angst und
Schrecken, zwinge es, über seine Eltern zu weinen,
seine Verwandten zu hassen, und setze cs mitleidslos
den Kränkungen Jener aus, die es verachten. Alles
um einer phantastischen Moralgrille halber, die Nie-
mandem nutzt, nur mich und sie unsäglich schmerzt und
schädigt."
„Ich bitte Dich, rede nicht so bitter. Wüßte ich
einen anderen Weg — Du wirst begreifen, daß es nur,
als einem dieser Familie d'Armont Nahestehenden, dop-
pelt schwer wird, Dir irgendwie —"
„Las; das!" rief Frank, seines Bruders Hand
drückend. „Du wirst nicht herausgehört haben, das;
mich dieser Gedanke auch nur berührt hat. Ich werde
die Verhandlungen hinter dein Rücken Marga's und
ohne Vorwissen ihrerseits führen. Erst mit der voll-
endeten Thatsache werde ich, wie damals, Marga gegen-
über treten. Und wie sie dann entscheiden wird in ihrer
kindlichen Liebe —"
Er brach ab. „Gute Nacht! Verzeih', das; ich Dich
so lange aufgehalten habe!"
Ohne zu ahnen, wie nahe eine von Egbert an-
gedeutete zufällige Enthüllung seines Geheimnisses über
ihm schwebe, von der selbstsüchtigen Mutterliebe der
Gräfin rücksichtslos ausgenützt, setzte sich der Doktor nach
dem Abendessen spät noch an seinen Schreibtisch, den
Bericht an die Familie d'Armont in Toulon abzufassen.
Margetli, welche sich immer schon den Tag über
aus die Plauderstunde am Abend freute, sah mit Miß-
fallen den Doktor in seinem Arbeitssessel Platz nehmen.
„Was machst Du denn noch, Vater?"
„Ich habe noch zu arbeiten, Kind. Gute Nacht!"
„Aber morgen?" Sie beugte sich schelmisch zu ihm
nieder, so das; sie mit ihrem Blondkopf fast aus dem
Briefbogen lag und schaute ihm halb blinzelnd, halb
verschmitzt in die Augen. „Ich habe mich den ganzen
Abend so wüthend mit den alten Zahlen herum -
geschlagen, und nun bist Du noch so böse! Vater, weißt
Du was — ?"
„Gute Nacht, sage ich Dir!" Er nahm ihre Wangen
zwischen seine Hände und küßte sie warm aus.Stirn
und Lippen. „Da! Nun gehe aber auch!"
Sie lief freudestrahlend davon.

M 24.
18.
Egbert Frank hätte nicht mit Worten angeben können,
was ihm an seinem Verhältnis; zu Lilla das Herz be-
drückte und ihn mit einer Art selbstquälerischen Un-
geduld das Ende der Trennung herbeiwünschen ließ,
aber er fühlte nichts mehr von der Hosfnungssreudigkeit
eines glücklichen Bräutigams.
Er sagte sich, das; die Gräfin alte Ursache zu sparen
habe, und das; weder er noch sonst Jemand Anspruch
erheben könne, in diesem Sinne eine Erläuterung ihres
Thuns zu beanspruchen. Er sagte sich auch, daß, da
seine Familientrauer den geselligen Bestrebungen der
Gräfin Zwang auserlegen mußte, diese jeder Versuchung
und damit neuen Mißhelligkeiten geschickt aus dem Wege
gegangen sei. Er sagte sich endlich, das; Lilla's Neigung
zur Bleichsucht einen Aufenthalt in frischerer Luft ge-
sundheitlich wünschenswerth mache. Und doch —
Das war's Alles nicht.
Ebensowenig hätte er aus den Briefen, welche ei-
regelmäßig zweimal in der Woche erhielt, irgend etwas
Beunruhigendes herauslesen können. Er zürnte sich
selber, so ost das Mißbehagen des Ungenügens ihn beim
Lesen dieser klaren und eleganten Buchstaben beschlich,
das; er etwas darin vermißte. Die ruhige, selbstbewußte
Würde, die stolze Herbe ihres Wesens, welche ihn mit
dein Vollreiz des Neuen und Ungewohnten damals zu
Lilla hinzog, durste ihm jetzt kein Grund werden, sich
unbefriedigt zu fühlen.
Am unzufriedensten war Egbert Frank mit sich
selber, so oft er den Geist, der aus diesen Briefen
sprach, der sonnigen Herzenslust verglich, mit welcher
Margetli das Vorhandensein ihrer Liebe seinem Bruder
allezeit offenbarte. Es erfaßte ihn zuweilen ein un-
erklärbares Gefühl der Sehnsucht, die Lippen seiner
Braut ebenso glücklich ausjubeln zu hören bei seinem
Nahen und in ihren Augen denselben Glücksstrahl auf-
flammen zu sehen, der den Doktor stets willkommen
hieß.
Sein Bedauern dem Bruder gegenüber, das; ein so
zärtliches und bezauberndes Geschöpf wie Margetli dem
Leichtfuß Lothar sich zu eigen geben könnte, wie er
voraussah, war ehrlich begründet.
Er unterhielt seit der Abreise seiner Braut so gut
wie gar keine Beziehungen zu diesem zukünftigen Schwa-
ger. Und Lothar, der inzwischen zu seinem eigenen
Staunen darüber aufgeklärt worden war, das; keine
Mutter seines Bekanntenkreises sich geweigert hätte,
ihre Tochter dem in jeder Beziehung hervorragenden
Mann zur Gattin zu geben, wenn er sie verlangt Hütte,
stimmte sein Betragen so weit herab, daß er es bei
bloßer Gleichgiltigkeit, ohne Beimischung von Ueber-
hebung, bewenden ließ.
Auffällig in Lilla's Briefen erschien Egbert Frank
endlich das gewohnheitsgemäße Fehlen jeder Erwähnung
ihres Bruders. Sie hatte niemals etwas an ihn zu
bestellen, lies; Lothar nie grüßen. Es machte den Ein-
druck, als ob sie das zwischen Bruder und Bräutigam
bestehende unverwandtschaftliche Verhältnis; eher billige,
als verurtheile.
Niemals auch gab sie sich den wonnigen Träumen
jener kommenden Zeiten hin, wo sie vereint mit dem
Gatten ein neues, schöneres Leben beginnen sollte,
weder in: Gewand des Scherzes, noch in sehnsuchtsvoller
Scheu.
„Gib mir mehr von Deiner Liebe," schrieb er ein-
mal voll ausbrechenden Verlangens, „meine theure Lilla,
und weniger von Deinem Verstände."
Aber Lilla's Antwort, welcher er nut erwartungs-
voller Ungeduld entgegensah, berührte diesen Punkt gar
nicht. Unbefriedigter dein: je, glaubte er zwischen den
Zeilen die empfindliche Zurückhaltung einer verletzten
Eitelkeit zu spüren.
„Ich bitte Dich, Lilla," schrieb er einige Tage daraus,
„mir diese peinigenden Näthsel in Deinen Briefen zu
ersparen. Ich löse sie nicht. Las; Dein Herz vor mir
leuchten, meine theure Lilla, selbst da, wo ich cs nicht
völlig begreifen könnte, sowie das meine mit jeder
Regung sich Dir freudig entschleiert. Las; mich zuerst
und immer die Schätze Deines Herzens spüren. Sie
sind es, die meinen: Geist Erfrischung, Kraft und Freu-
digkeit verleihen: nicht Dein Verstand."
Hierauf erhielt er einen Bries, in welchem jeder
Eingeweihte folgende Mahnung der Gräfin erkannt
haben würde: Du siehst nun, meine liebe Lilla, was
Dich an der Seite dieses selbstherrliche:: Mannes er-
wartet, der keine Werthschätzung für die reichen Gaben
Deines Geistes besitzt, welche Dich in unseren Kreisen
zu einem Stern der Gesellschaft erhoben haben würden.
Eine Stelle lautete: „Du mußt verzeihen, wenn ich
Deinen: Wunsche gemäß so schnell meine Eigenart nicht
ändern kann. Wir sind nun einmal durch Anlage und
Erziehung, was wir sind. Oder wolltest Du eine
Braut vorziehen, die sich in ihren Briefen Zwang an-
thut?"
(Fortschuiig folgt.)
 
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