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612

Das Buch für All e.

Heft §o.

jüngste Feldzug dieser Art war
gegen Tschitral gerichtet, ein
Gebirgsland im äußersten Nor-
den des indo-britischen Reiches,
wichtig aber dadurch, daß es
südlich vom Pamirplateau liegt,
dessen sich die Russen bereits
so gut wie bemächtigt haben.
Dies, und nicht die nur den
Vorwand liefernden Thron-
streiligkeiten in Tschitral selbst,
war der Grund, der England
veranlaßte, sich dort festzusetzen.
Zuerst uatürlich versuchte Eng-
land auf diplomatischem Wege
seine Zwecke zu erreichen und
den neuen Fürsten von Tschi-
tral, den Emir ul Mulk, für
sich zu gewinnen. Diese Mis-
sion scheiterte jedoch, und der
englische Bevollmächtigte, 1)r.
Robertson, wurde mit400 Mann
indischer Truppen in Tschitral
eingeschlossen und von den tapfe-
ren Bergbewohnern hart be-
drängt. Jetzt mußte England
zum Kriege schreiten. Es wurde
gegen die Tschitralesen eine ver-
hältnißmäßig sehr große Kriegs-
macht aufgeboten: über 14,000
Mann geschulter Truppen. Außer
zahlreichen kleinen Scharmützeln,
in denen die Engländer nicht
immer siegten, fanden mehrere
bedeutendere Gefechte statt. An-
fangs April 1895 wurde nach
Ueberwindung gewaltiger
Schwierigkeiten der befestigte
Malakandpaß genommen. Unser
Bild auf S. 609 zeigt uns die
englische Rekognoszirungsab-
theilung am Malakandpaffe im
Kampfe mit Tschitralesen, welche
stets sofort zum Handgemenge
überzugehen strebten. Aber
die Maximgeschütze der Eng-
länder gaben bald den Aus-
schlag. Nachdem dann noch
der Swatfluß überschritten, die
Stadt Dir eingenommen und
Or. Robertson in Tschitral ent-
setzt war, gelang es den Englän-
dern mit Hilfe des abtrünnigen
Khans von Dir, den flüchtigen
Führer der Tschitralesen, den
Oheim des Fürsten, Schir Afsul,
gefangen zu nehmen und da-
durch den Krieg zu beendigen.
Tschilral, bisher eines der am
wenigsten bekannten Länder
der Erde, wird jetzt unter eng-
lischer Verwaltung Anschluß an
die Civilisation des Westens er-
halten. Geplant ist bereits eine
Fahrstraße über die wilden Ge-
birgspässe von Peschawer nach
Tschitral. vr. Robertson trägt
sich mit der Hoffnung, die Tschi-
tralesen zu Freunden zu gewin-
nen, sobald diese nur erst die
„Uneigennützigkeit der Englän-
der" erkannt haben; er glaubt
dann die tapferen und kriege-
rischen Leute in einem Kriege
mit Rußland einmal als Vor-
mauer benützen zu können. In-
wieweit diese Wünsche in Er-
füllung gehen, kann nur die
Zukunft lehren.' Sicher ist nur,
daß bald wieder ein dunkler
Punkt weniger auf der Land-
karte zu finden sein, und das
Antlitz der Erde uns durch die
Eroberungen europäischer Völ-
ker immer bekannter wird.

Die Prozession der Gigli
in llola (Italien).
(Siehe das nebenstehende Bild.)
^m Nordosten von Neapel
liegt, 33 Kilometer entfernt,
Nola, heute ein unbedeutender
Ort voir 12,000 Einwohnern,
der aber im Alterthum zu den
bedeutendsten Städten Campa-
niens gehört hat. Von Nola
berichtet Walafrid Strabo (gest.
849), daß hier zuerst Glocken
angefertigt worden seien. Die
Stadt führt noch heute eine
Glocke im Wappen, und es gilt
dort der heilige Bischof Pau-
linus (354—431) für den Er-
finder der Glocken. Sein Ge-
dächtnißtag ist der 22. Juni,
der alljährlich besonders festlich
gefeiert wird, und an dem die

Die Wrozession der Oigki in Hiota (Italien).


eigenartige Prozession der Gigli
stattfindet, die unser Bild
därstellt, und zu der das
Volk von Nah und Fern
herbeiströmt, so daß oft an
60,000 Menschen sich in den
engen Straßen des Städtchens
zusammendrüngen. Gigli (Mehr-
zahl von ^i^Uo — Lilie) sind
Obelisken aus Pappdeckel, die
auf einem Holzgerippe befestigt,
von außen hübsch bemalt sind
und oben die Figur eines Hei-
ligen oder eines Engels tragen.
Sie sind gegen 30 Meter hoch
und wiegen 400 bis 500 Kilo-
gramm. Jede dieser Gigli wird
bei der Prozession von vierzig
kräftigen Männern auf den
Schultern getragen, von denen
zehn auf jeder Seite des Fuß-
gestells gehen. Originellerweise
tragen sie diese hohen Gerüste
aber nicht im Schritt, sondern
indem sie dabei eine Art von
Polka so genau im Takte tanzen,
daß dabei das Gleichgewicht
ihrer Last nicht verloren geht.
Es werden gewöhnlich acht
solcher Obelisken herumgetra-
gen, von denen jeder einem be-
sonderen Gewerbe, den Bäckern,
Gärtnern, Metzgern, Schustern,
Schneidern u. s. w. gehört; sie
sind mit den Emblemen der be-
treffenden Körperschaft und oben
mit der Statue ihres Schutzhei-
ligen geschmückt. Den Schluß
bildet ein großes Schiff, das in
derselben Weise von den Ger-
bern getragen wird. Darin
befindet sich eine Musikbande
mit geschwärzten Gesichtern,
welche die Korsaren darstellen
soll, in deren Hände einst der
heilige Paulinus auf der Fahrt
nach Konstantinopel siel. Man
versammelt sich zu der Prozes-
sion um 11 Uhr Vormittags
auf dem Platze vor der Kathe-
drale, den unsere Ansicht wie-
dergibt. Neun Musikbanden
spielen, alle Glocken werden
geläutet, Kanonenschläge wer-
den abgeseuert, und die Gigli
führen inmitten der Volksmenge
eine Art von Quadrille aus.
Sobald der erste Schlag der
Mittagsstunde ertönt, öffnet sich
das Hauptthor des Domes, und
aus dem Portale schreitet das
Domkapitel hervor, in feier-
lichem Zuge die Reliquien des
heiligen Paulinus tragend. Ter
Erzbischof, umgeben von den
Mitgliedern aller Kongregatio-
nen, ertheilt dem Volke den
Segen, hierauf ordnet sich die
Prozession, um nun durch die
Straßen der Stadt zu ziehen,
wobei die Träger der Gigli
fortwährend ihren eigenthüm-
lichen Tanzschritt beibehalten.
Nach Beendigung des Zuges
zerstreut sich Alles in die Wirths -
Häuser und öffentlichen Gär-
ten, wo nun bis in die Nacht
hinein eine Art fröhlicher Kirch-
weihe gefeiert wird.

M es ein Traum?
(Siche duS Bild auf Seite 613.)
>7>ie Gans steht zwar in dem
Ruf, ein recht dummes Thier
zu sein, aber die Eigenschaft
der Wachsamkeit, welche doch
die Kundgebung einer gewissen
Intelligenz ist, wirdwohl schwer-
lich Jemand bestreiten wollen,
da das klassische Zeugnis; der
Rettung des Kapitols durch
diese Tugend der Gänse vorliegt.
Dennoch schlafen die Gänse tief,
was wahrscheinlich seinen Grund
darin hat, daß sie die Gewohn-
heit besitzen, beim Schlafen den
Kopf zwischen die Flügel zu
stecken, wodurch ihre Ohren ver-
deckt werden. Diese Eigenschaft
der vielgeschmähten, aber sehr
gern genossenen Thiere ermög-
lichtes auch dem Fuchs auf un-
serem Bilde S. 613, am Stall-
senster heraufzusteigen und sei-
nen Kopf recht gemächlich in den
Raum zu bringen, das geht sicher
 
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