Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
618

Das B u ch f ü r All e.

„Ich werde thun, was in meinen Kräften steht, um
Sie zu schonen. Aber ich verspreche Ihnen nichts.
Wenn Ihr Bericht über die angeblichen Unterschla-
gungen des Herrn Löwengaard auf Wahrheit beruht
— und ich werde das ja sogleich erfahren — so zweifle
ich nicht, daß auch der schreckliche Verdacht, der Sie
hierher getrieben hat, ein vollkommen berechtigter ist.
Die Umstande werden meine weitere Handlungsweise
bestimmen; jedenfalls aber müssen Sie sich bereit machen,
für das einzustehen, was Sie gethan."
„Ich bin darauf gefaßt, Herr Oberstlieutenant,"
erwiederte der unglückliche Buchhalter leise, „ich mußte
mich ja darauf gefaßt machen, ehe ich zu Ihnen ging.
Wenn ich Sie gebeten habe, nach Möglichkeit Mitleid
gegen mich zu üben, so war es nur um meiner armen,
kranken Kinder willen. Aber ich sehe es wohl ein:
Ueber Alles das Recht!"
Langsam schleppte er sich, mühselig athmend, in
seine Wohnung zurück, denn schon seit mehreren Tagen
war ihm von seinen Chefs Krankheits halber Urlaub
ertheilt. Der Oberstlieutenant aber fuhr in das Ge-
schäftslokal von Schröder L Werkenthin, und es war
eine sehr lange, bedeutsame Unterredung, die er dort
mit den beiden Inhabern der Firma hatte.

Schon eine ganze Stunde vor dem Beginn der Be-
erdigungsfeierlichkeit hatte Julius Löwengaard seinen
Anzug beendet. Seit dem letzten Besuche Maximilian
Geißler's, seitdem er die schreckliche Ueberzeugung ge-
wonnen, daß sein Geheimniß einen Mitwisser habe,
war er ganz unfähig, sich mit geschäftlichen Angelegen-
heiten zu befassen oder in irgend einer Art von Arbeit
Ablenkung und Zerstreuung zu suchen. Alle seine Ge-
danken kreisten nur noch um diesen einen Punkt, wie
aufgeregte Insekten die Kerzenflamme umschwirren, von
der sie zuletzt unfehlbar verzehrt werden. Er hatte die
letzten Nächte fast schlummerlos verbracht; seine Nerven
waren nahezu an das Ende ihrer Widerstandsfähigkeit
gelangt, und in seinem Gehirn bohrte es zuweilen schon
wie beginnender Wahnsinn. Er hatte sich angekleidet,
um doch irgend eine Beschäftigung zu haben, und nun
stand er in seinem feierlichen schwarzen Anzuge am
Fenster des Arbeitszimmers, dumpf vor sich hin brütend,
und einzig von dem sehnlichen Wunsche erfüllt, daß
auch dieser Tag erst vorüber sein möge.
Er sah den Oberstlieutenant v. Frantzius auf das
Haus zukommen, und diese Wahrnehmung ließ ihn
tödtlich erschrecken, wie wenn es schon die Schergen des
Gerichtes wären, die sich einstellten, ihn zu holen.
„Welch' ein jämmerliches altes Weib ich doch ge-
worden bin!" murmelte er ingrimmig vor sich hin.
Aber nach Verlauf einer Minute fügte er aufstöhnend
hinzu: „Besser, die Geschichte wäre mit einem Male
zu Ende!"
Noch einmal suchte er die alte Strammheit zu
heucheln, als Frantzius bei ihm eintrat; doch die er-
logene Festigkeit brach schon zusammen, als er inne
wurde, daß Jener geflissentlich die Hand nicht sah, die
er ihm zum Gruße geboten.
„Sie kommen sehr früh, lieber Freund!" sagte er
unsicher. „Wir werden unseren sauren Gang kaum vor
Ablauf einer halben Stunde antreten können."
Der Oberstlieutenant sah sich um, als wolle er zu-
vor Gewißheit darüber erlangen, daß alle Thüren ge-
schlossen seien, dann erwiederte er mit gedämpfter
Stimme, doch in eiskaltem, stahlhartem Ton: „Sie
werden diesen Gang überhaupt nicht antreten, Herr
Löwengaard, denn ich dulde nicht, daß Sie das schänd-
liche Gaukelspiel auch noch am Grabe Ihres Opfers
fortsetzen. Ich bin hierher gekommen, um das zu ver-
hindern."
Löwengaard blickte starr vor sich hin in's Leere,
und seine zitternden Finger zupften nervös an den
Enden der schwarzen Kravatte.
„Ich verstehe nicht, Herr Oberstlieutenant — wollen
Sie — wollen Sie mir nicht gefälligst erklären — wie
— wie Sie das meinen?"
Frantzius that noch einen weiteren Schritt auf ihn
zu und raunte ihm in's Ohr: „Ich meine, daß der
Dieb sehr wohl auch ein Mörder sein kann — ich meine,
daß Cäsar nicht durch seine Unvorsichtigkeit verunglückt
ist — und daß Sie allein im Stande sein würden,
über die Ursache seines Todes Auskunft zu geben."
Julius Löwengaard blieb ganz regungslos; seine
Finger arbeiteten noch immer mechanisch an der Hals-
schleife, und sein Gesicht verzog sich langsam zu einem
gräßlichen, verzerrten Lächeln. Dann, nach einen: langen
Schweigen, kam es heiser und tonlos über seine Lippen:
„Wenn Sie glauben, daß es so ist, warum sind Sie
dann allein gekommen? Warum haben Sie nicht gleich
den Staatsanwalt mitgebracht und die Polizei?"
„Weil ich hoffe, daß Sie einen anderen Weg vor-
ziehen werden, Ihre Schuld zu sühnen. Ich bin ent-
schlossen, erst heute Abend meine harte Pflicht zu er-
füllen, wenn —"
„Nun, warum vollenden Sie nicht, Herr Oberst-
lieutenant? In solcher Situation ist es^ doch wohl

M 26.

geboten, sich klar auszusprechen. Sie werden also Ihre
Pflicht erfüllen, wenn —?"
„Wenn die Untersuchung alsdann noch gegen einen
— Lebenden gerichtet werden kann, Herr Löwengaard!"
„Ah, jetzt verstehe ich. Das ist so militärische Auf-
fassung, nicht wahr?"
„Nein, es ist der Ausdruck des Mitleids, das ich
mit Ihren unglücklichen Angehörigen empfinde."
„Und wenn ich nun wirklich jenen — jenen anderen
Weg einschlüge, könnten Sie sich dann dafür verbürgen,
daß meine Angehörigen vor Schmach und Schande be-
wahrt bleiben?"
„Ich glaube, daß ich es könnte. Aber die Zeit, die
ich Ihnen für die Entscheidung gewähren darf, ist kurz.
Höher als alles Mitleid und als alle menschlichen
Regungen des Herzens steht mir die Majestät des Ge-
setzes. Erwarten Sie nicht, mich schwach zu finden,
wenn es gilt, ihr den schuldigen Gehorsam zu erweisen."
„Wie könnte ich wohl dazu kommen, Ihnen irgend
eine Schwachheit zuzutrauen, Herr Oberstlieutenant!
Aber da Sie nun einmal die Menschenfreundlichkeit
hatten, sich meiner Angehörigen zu erinnern, glauben
Sie nicht, daß mein Tod sie fast ebenso hart treffen
könnte wie — nun, wie meine Schande?"
„Nein! Es handelt sich hier vor Allem um
Fräulein Hilde, und wie groß auch vielleicht ihr
Kummer sein wird, sie ist jung genug, ihn zu über-
winden. Ich aber verspreche Ihnen hier auf meine
Mannesehre, daß ich ihr bis zu dem Tage ihrer Ver-
heirathung, und — wenn es noththut — auch darüber
hinaus, ein Vater sein werde. Sie soll in unserem
Hause eine Heimath finden, und wenn es dort auch an
Glanz und Luxus fehlt, an Liebe, dessen mögen Sie
versichert sein, wird es ihr bei uns nicht mangeln."
„Wie trefflich Sie Alles bereits überlegt haben!
Es fehlt nur, daß Sie die geladene Pistole vor mich
auf den Tisch legen und kommandiren: ,Eins — zwei
— drei !' — Sagen Sie mir doch, mein verehrter Herr
Oberstlieutenant: ist das denn nicht auch eine Art von
Mord?"
„Ich zwinge Sie zu nichts, die Entscheidung steht
bei Ihnen. Was ich thun müßte, wenn Sie sich für
das Weiterleben entscheiden, wissen Sie so gut als ich."
„Nun, Sie können ruhig sein, ich werde Sie
nicht nöthigen, den Denunzianten zu machen. Ich habe
für alle Fälle vorgesorgt. Es ist wahrhaftig nicht viel,
was ich mit diesem Dasein von nur werfe. Nur ein
paar kleine Gefälligkeiten könnten Sie mir zuguterletzt
noch erweisen."
„Was in meinen Kräften steht, werde ich unweiger-
lich thun."
Löwengaard hatte ein Fach seines Schreibtisches
geöffnet und ihm zwei verschlossene Briefumschläge-ent-
nommen.
„Da sind zunächst gewisse Aufzeichnungen, die einen
Doktor Maximilian Geißler betreffen. Ich weiß nicht,
ob er es ist, der Sie auf Ihre besonderen Vermuthungen
gebracht hat —"
Frantzius machte eine verneinende Geberde. „Ich
kenne den Mann nicht und höre seinen Namen zum
ersten Male."
„Nun, um so besser. Er hatte diese Vermuthungen
jedenfalls schon früher als Sie, und er hat es ver-
standen, sie zu seinem Vortheil auszunutzen. Das
Schweigegeld, das er mir erpreßte, besteht in einem
Check über fünfzigtausend Mark, den er morgen bei der
Firma Schröder L Werkenthin zur Einlösung präsen-
tsten wird. Da Sie nun die Entstehungsgeschichte
dieses Checks kennen, werden Sie vielleicht im Stande
sein, die Honorirung zu verhindern. Der saubere Herr-
Doktor dürfte unter diesen Umständen leicht zum Schwei-
gen zu bringen sein, um so mehr, als sich da in dem
Umschlag noch einiges werthvolle Material über seine
Vergangenheit befindet."
„Er wird keinen Pfennig erhalten, verlassen Sie
sich darauf! Und was weiter?"
„Dies hier ist der Revers, mit dem sich eine arme
Seele dem Teufel verschrieben hat. Wenn Sie ein
gutes Werk verrichten wollen, so händigen Sie den
Brief uneröffnet dem Buchhalter Helmbrecht vom Hause
Schröder L Werkenthin ein. Ich könnte das Schrift-
stück ja hier vor Ihren Augen vernichten; aber es wird
dem Manne eine größere Beruhigung sein, wenn er
es selber thun kann. — So, weiter hätte ich Ihnen
nichts aufzutragen! — Doch ja, noch eine allerletzte
Bitte! Sorgen Sie dafür, daß meine kleine Hilde
nicht geradeswegs vom Kirchhofe nach Hause zurückkehrt.
Was für ein L>chuft ich auch in Ihren Augen sein
mag — sie hatte mich doch lieb. Und sie soll es darum
nicht sein, die mich zuerst findet. Wenn man sie scho-
nend vorbereitet, wird sie es leichter ertragen."
Der Oberstlieutenant hatte nicht mehr Zeit, ihm
die verlangte Zusage zu machen, denn in diesem Augen-
blick trat die, von der sie eben gesprochen hatten, in's
Zimmer. Sie war ganz in Schwarz gekleidet; aber
ihr reizendes Gesichtchen sah frftch und blühend aus
trotz seines ernsten Ausdrucks. Sie begrüßte Herrn
v. Frantzius und wandte sich an ihren Vater.

„Der Wagen wartet bereits — es ist Zeit, daß
wir gehen."
Den ganzen Nest seiner Kraft zusammenraffend,
erklärte Löwengaard, daß er eines plötzlichen Unwohl-
seins wegen der Beerdigung nicht beiwohnen könne,
und daß sie darum mit dein Oberstlieutenant fahren
möge. Die Besorgnisse der erschrockenen Hilde be-
schwichtigte er mit allerlei harmlosen Erklärungen dieses
leichten Uebelbefindens; aber als es ihm dann endlich
gelungen ivar, sie in der That einigermaßen zu be-
ruhigen, und als sie sich wirklich zum Gehen wandte,
da stürzte er noch einmal auf sie zu, riß sie in seine
Arme, als ob er sie zerdrücken wollte, und bedeckte ihr
Gesicht mit heißen Küssen. Ohne ein Wort zu sprechen,
schob er sie dann aus der Thür. Hinter dem Fenster-
vorhang verborgen, wartete er, bis sie unten eingestiegen
war, und mit vorgeneigtem Oberkörper lauschte er aus
das Nollen des davonfahrenden Wagens, bis auch der
letzte schwache Laut in der Ferne erstarb.
Dann erst trat er wieder an seinen Schreibtisch,
öffnete ein kleines verborgenes Fach in dem Seiten-
schränkchen, und entnahm demselben ein winziges, mit
wasserheller Flüssigkeit gefülltes Fläschchen.
„So, das andere mit der Opiumlösung steht daneben,"
murmelte er. „Man wird so am leichtesten an eine
Verwechslung glauben. Zum Teufel mit dieser ganzen
armseligen Daseinskomödie! Wenn das Ende doch
immer dasselbe ist, warum soll der Vorhang nicht auch
einmal etwas frühzeitiger fallen?"
Ohne zu zaudern, setzte er das Glas an die Lippen
und leerte es mit einem einzigen Zug. Es gab einen
dumpfen Fall und ein kurzes, qualvolles Röcheln.
Dann wurde es ganz still.
Mit weit geöffneten, gebrochenen Augen lag Julius
Löwengaard todt auf dem Teppich.
E n d c.

Gauklerbluk.
Novelle
von
Carl Ed. Klopfer.
- (Nachdruck vcrLoten.)
1.
acht lag über Paris — Sylvesternacht! Die
Theater waren zu Ende, die Krambuden
des Weihnachts- und Neujahrsmarktes ge-
schlossen, doch herrschte im Mittelpunkt der
Riesenstadt auf den Straßen noch reges
Leben.
Vom Marsfeld her gegen die Seine zu schlenderte
ein Mensch. Dem Lauf des Flusses folgend, kam er
zur Grenellebrücke. Dort stand unter ein paar Bäumen
eine Bank, auf der er sich niederließ — die Ellenbogen
auf die Kniee gestemmt, den Kopf in die Hände ge-
stützt. Seine Brust röchelte unter einem krampfhaften
Hustenanfall. Dann machte ihn die Kälte erzittern und
gemahnte ihn, daß es gefährlich sei, hier einzuschlafen.
Auf der anderen Seite der Straße zeigte sich die
Uniform eines Stadtsergeanten. Der Wächter der Ord-
nung lenkte seine Schritte zu der Bank. Er hatte den
dort Sitzenden bemerkt und gedachte ihn nach seinem
Woher und Wohin zu befragen.
Der arme Teufel erhob sich rasch und ging davon.
Erst an der Rouellestraße blieb er abermals stehen, von
seinen: keuchenden Husten geschüttelt. Vor einen: der
nächsten Häuser in dieser Seitenstraße sah er einen
großen Prellstein. Dort hielt er wieder auf einige
Minuten Rast, bis ihn das Geräusch von Schritten und
ein ausgelassenes Gelächter aus seinen: dumpfen Hin-
brüten aufschreckten.
Ein kleiner dicker Herr, den Cylinderhut in: Nacken,
den Pelz weit offen, so daß das Laternenlicht auf seine
mächtige goldene Uhrkette fiel, kam an der Seite einer
Dame die Straße herab. Sie waren entschieden von:
Weine erhitzt. Ihr Lachen widerhaltte zwischen den
Häusern.
Da kam mit einen: Ruck eine eigentümliche Er-
regung über den Einsamen dort an: Prellstein. Er
ballte die Fäuste vor dem Gesichte und trat den: Paare
mit einen: raschen Entschlüsse in den Weg.
Ein dumpfes, grollendes Gurgeln entrang sich seiner
Kehle, unartikulirte Laute. Nur aus seiner vorgestreckten
zitternden Hand konnte man entnehmen, daß es die
Bitte um ein Almosen sein sollte.
„Ein Bettler!" murmelte die Begleiterin des dicken
Herrn.
„Mein Herr!" stotterte jetzt der Elende. „Sie —
Sie kommen von einem fröhlichen Mahle — ich habe
seit dem Morgen noch keinen Bissen in den Mund ge-
nommen — und morgen hungert auch mein Kind da-
heim. — Der Hauswirth wird seine Miethe fordern
und uns vor die Thür setzen und — und . . ."
 
Annotationen