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638

Heft 26.

Das Buch für Alle



Gerberei Piazolo in Ebingen.
Nach einer Photographie von Photograph Binder in Ebingen.

haßt, so daß sie in eine Heilanstalt gebracht werden
muß. Die gleiche Wahnvorstellung besteht noch wäh-
rend der ersten Monate, die Kranke versteht ihren Zu-
stand, ist verzweifelt, erkennt, daß ihre Befürchtungen
eingebildet sind und bemüht sich aufrichtig, sie los zu
werden, aber es gelingt ihr nicht, so daß sie sogar
Selbstmordversuche unternimmt. Nach fünf Monaten
endlich verspürt sie eitle bedeutende Besserung, sie
erklärt sich für geheilt und kehrt zu ihrer Familie
zurück.
Wie sehr ein solches Angstgefühl die Kranken
quälen muß, ist klar, aber es treibt bisweilen auch
im Fortgang des Leidens dazu, rücksichtslos An-
dere zu quälen. Die Blutter, die bei jeder Berüh-
rung sich zu beschmutzen ängstigt, dehnt diese Angst
auch auf die Kinder und den Gatten aus, und diese
müssen stundenlang sich wieder und wieder waschen,
ehe eine Handleistung und Nahrungsaufnahme ge-
stattet wird. Und dabei ist diese Blutter nicht un-
empfindlich für das Leiden der Ihrigen. Denn sie
weiß ost, daß sie dieselben grundlos quält, und daß
sie dies weiß, erhöht noch ihre eigene Qual.
Die krankhafte Angst, schmutzig zu sein oder
für schmutzig gehalten zu werden, treibt mitunter
sonderbare Blütchen. Ohnegleichen dürfte aber ein
Fall sein, den Trelat mittheilt. An einer Kauf-
mannsfrau hatte man seit Beginn ihrer Ehe Ab-
sonderlichkeiten beobachtet. Sie brauchte eine be-
trächtliche Zeit zu ihrer Toilette und war trotzdem nie-
mals zur verabredeten Zeit fertig. Nun, dies soll ja
öfter auch bei anderen, durchaus gesunden Frauen Vor-
kommen, allein die Verzögerungen, die unsere Patientin
dadurch den Tagesgeschäften bereitete, wuchsen mehr
und mehr, während sie sich beklagte, daß man sie quäle.
Sie machte sich durch ihre mehr ausfallende als ge-
wählte Kleidung bemerkbar und kümmerte sich nicht
genügend um die Leitung des Hausstandes und die Ueber-
wachung der Dienstboten. Ihr Gatte sah mit Erstaunen,
daß sie sich vor dem Schlafengehen in ihr Ankleidezim-
mer begab und dort mehrere Stunden verblieb. Wenn
er sie fragte, womit sie sich so lange Zeit beschäftigen
könne, antwortete sie, daß eine Frau tausend Dinge zu
thun habe. Als ihr nach der Geburt des ersten Kindes
eine Amme zur Seite gegeben wurde, bemerkte man,
daß sie niemals vor drei, zuweilen vier Uhr Morgens
in's Bett ging. Bald darauf verfiel sie in einen schweren
Typhus. Die Krankheit zwang dazu, alle Schränke zu
durchsuchen, deren Schlüssel die Kranke sonst nie aus den
Händen gegeben hatte. Da-
bei entdeckte man nun die
Erklärung ihrer nächtlichen
Arbeit. Jede Nacht machte
sie nämlich gründliche Toi-
lette und wickelte und fal-
tete mit der größten Pein-
lichkeit Alles, was sie von
ihrer Hautfläche entfernte,
in kleine Papiere. Alles
dieses war nach Inhalt
und Zeit in verschieden-
farbige Umschläge geordnet.
Die Fingernägel waren
stets in Papier von der-
selben Farbe gewickelt mit
Angabe des Tages, an dem
sie abgcschnitten waren,
und alle Nägelpückchen
waren nach Tagen, Neo-
naten und Jahren über-
einander geordnet. Dieselbe
Sorgfalt zeigte sich für
die Fußnägel, die in Pa-
pierpäckchen von einer an-
deren Farbe gewickelt
waren, dieselbe Behutsam-
keit der Klassenanordnung
für den Schmutz der Nägel,
dieselbe Sorgfalt für das
Ergebnis; der Qhrenpflege,
und endlich fand man noch
einen viel bedeutenderen
Haufen kleiner Papiere für
die ausgekümmten Haare.
Alle diese Körperabsälle
waren als das gewissen-
hafte Ergebnis; einer fast
zehnjährigen hygienischen
Arbeit wie die kostbarsten Gegenstände zwischen der
sauberen Leibwäsche und Tischwäsche, die für den Haus-
stand gebraucht wurde, in einem Schranke aufgespeichert.
Nicht geringere Qualen bereiten anderen Kranken
die Angstgefühle, welche sich im Gefolge des als
Zweifelsucht bezeichneten Geisteszustandes einstellcn.
Es handelt sich bei diesen Nervenleidenden darum, das;
sie sich in einer steten Angst befinden, weil sie glauben,
bei ihren Vornahmen nicht sorgfältig zu Werke ge-
gangen zu sein, woran sich dann später fortgesetzte
Fragen über alle nur möglichen Dinge schließen, deren

stündig aufzugeben. Unterdessen hatte ich meinen Vater
auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, einen anderen
Beruf wählen zu müssen, wollte es aber natürlich noch
einmal versuchen. Doch es sollte anders kommen! Der
Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Kaum
konnte ich einen Fleischerladen ansehen, geschweige dem;
ein Bandngengeschäft, in dem künstliche Glieder aus-
gestellt waren ; dem Krankenhauswagen wich ich auf
Schritt und Tritt aus.
So verging das Wintersemester. Es kamen die
Ferien, die ich zu Hause und bei Bekannten verlebte.
Mein Zustand, wenn ich es so nennen darf, besserte
sich, so das; ich am Beginn des Semesters mehrere
Vorlesungen besuchen konnte. Zum Chirurgen ging
ich noch nicht, da ich nicht übertreiben wollte.
Nach Pfingsten überkam mich bei der Vorstellung
von Herzkranken der alte Zustand wieder, so das;
ich trotz alles Zuredens meiner Bekannten die Klinik
verlassen mußte. Seitdem besuche ich nur noch die
innere Klinik, wähle aber meinen Platz so, das;
ich jeder Zeit weggehen kann. Soweit mein seeli-
scher Zustand."
Der Angstzustnnd, wie er in vorangehender Schil-
derung beschrieben wurde, ist bis zu einem gewissen
Grade noch verständlich. Dagegen treten derartige
Gemüthserregungen bei Nervenleidenden auch unter
U-mständen auf, die durchaus keine natürliche Erklä-
rung zulassen. So gibt es Personen mit schwerer
erkranktem Nervensystem, die eine namenlose Angst be-
fällt, wenn sie sich in geschlossenen Räumen befinden.
Die Vorstellung hiervon ist ost das einzige Symptom
ihrer Krankheit, und doch äußert es sich in einer solchen
Stärke, das; die Kranken vor Angst ganz sinnlos sind
und nicht eher ihre geistige Ruhe wieder erlangen, als
bis der Grund ihrer Beklemmung beseitigt ist. Auch
hier mag wieder dw eigene Schilderung einer Kranken,
es handelt sich um eine Dame, für sich selbst sprechen.
„Jene Angst ist mein ganzes Uebel" , erzählt die
Dame, die den französischen Psychiatriker Ball konsultirte.
„So darf in meiner eigenen Wohnung Tag und Nacht
die Eingangsthür nur mit den: Riegel abgesperrt sein.
Ich erhebe 'mich Nachts und überzeuge mich, das; sie
nicht mit dem Schlüssel verschlossen ist. Wenn ich sie
durch Zufall geschlossen habe, so rufe ich um Hilfe,
laiche von einem Zimmer zum anderen, um die Schlüssel
zu suchen, und kenne mich selbst nicht mehr aus. Es
ist mir, als wisse ich nicht, wo ich bin. Um den Anfall
zu lindern, muß die Thür offen sein, sofort verschwindet
die Störung. Man würde
mich nicht um ein Kaiser-
reich dazu bringen, allein
in einem geschlossenen Zim-
mer zu bleiben, sonst geht
sofort mein Kops davon,
und ich weis; nicht mehr,
was ich thue. Um mich zu
beruhigen, muß die Thür
ebenso wie das Fenster
offen sein, und ich muß die
Leute gehen und kommen
hören."
Von weit ernsterer Be-
deutung sind die Angstge-
fühle, die sich an Hand-
lungen knüpfen, die schwer
oder gar nicht unterlassen
werden können. Es ist hier
namentlich die Angst vor
Berührung zu nennen. In
diesen Fällen weiß der
Kranke, der die Thürklinle,
die Bettstelle, ein Kleid,
ein Buch oder sonst einen
Gegenstand nicht anfassen
kann, ohne durch die Vor-
stellung, sich zu beschmutzen
oder zu vergiften, in die
heftigste Angst zu gerathen,
ganz genau, das; die Angst
sinnlos ist, das; sie eine
krankhafte Erscheinung ist,
aber sie ist mächtiger als
sein Wille. Berührt er den
Gegenstand, der sich mit
seiner.Angst unaufhörlich
verknüpft hat, so treten die
stärksten Erscheinungei; der
Angst auf. Nun sucht der Kranke durch kleine Hilfs-
mittel zum Ziele zu kommen, er faßt die Gegenstände
mit dem Taschentuch an, oder er wischt oder wäscht sie
sorgfältig ab, womöglich in immer zahlreicheren Wieder-
holungen, bevor cs ihm gelingt, sie vorsichtig oder mit
raschem Entschluß zu berühren und das, was er vor-
hatte, damit auszuführen. Verbindet sich die Vor-
stellung von Schmutz oder von gefährdenden Dingen,
wie Gift, Glassplitter, Knochenstücke, mit Speisen
oder Getränken, so kann der Kranke sie nicht genießen,
ohne vorher jedesmal eine gründliche Untersuchung

böden zu gießen und jede Berührung mit Eltern und
Freunden zu fliehen. Sie will nicht mehr ausgehen,
um nicht auf der Straße phosphorbedeckten Leuten zu
begegnen und von ihnen berührt zu werden. Geht sie
in ein Zimmer und bemerkt dort eine Schachtel Zünd-
hölzer, so stößt sie einen Schrei aus und läuft davon.
Sie nimmt ihre Mahlzeiten nicht mehr am Familien-
tische ein, weil die Kleider ihrer Angehörigen und des
Dienstmädchens ebenso wie die Speisegerüthe vielleicht
Phosphor enthalten könnten. Das Zusammenleben
wird unmöglich, Vater und Mutter werden ihr ver-

angestellt zu haben. Je wuchtiger für seine Exi-
stenz die Handlungen sind, deren Vorstellung seine
Angst erregt, um so mehr muß er eben trotz der häu-
figen Ueberzeugung von der Grundlosigkeit seiner Be-
sürchtung und von; Krankhaften des ganzen Vorgangs
solche Mittel suchen, um seine Aufmerksamkeit abzu-
lenken und die vermeintliche Gefahr zu verringern.

Brauerei Lang in Balingen.
Nach cüier Phoiegr aphic von Photograph Bi »der in Ebiugcn.
Wie ein derartiger Angstzustand allmälig entsteht,
zeigt eine Beobachtung Legrand du Saulle's. Ein
junges Mädchen fühlte eines Tages während eines
starken Gewitters eine sehr heftige Angst, aber sic em-
pfand durchaus keine unmittelbare oder inittelbare
Wirkung des Blitzes. Infolge dieser Erregung wird
sie traurig, zerstreut, schweigsam, gereizt und zänkisch.
Sie sucht die Einsamkeit, und sobald sie allein ist
wäscht sie ihre Hände mit Sorgfalt und bürstet ihre
Kleider. Man sragt sie, aber sie gibt keine glaub-
würdige Erklärung und bemüht sich, die Aufmerksam-
keit abzulenken. Von ihrer Befangenheit beherrscht,
und immer weniger Herrin ihrer selbst, kann sie schließ-
lich nicht mehr verheimlichen, was sie so bestürzt macht,
und gesteht ihren Eltern, das; sie seit dem Tage des
Gewitters von der Angst geplagt wird, Phosphor an
ihren Händen, ihren Kleidern oder an den Möbeln zu
finden. Durch Vas Geständnis; erleichtert und sich nun-
mehr gehen lassend, verbringt sie den ganzen Tag da-
mit, sich zu waschen, Wasser über die Stühle und Fuß-
 
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