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von der kretisch -mykenischen Kunst wird der sein, daß ihn vieles an euro-
päische Leistungen erinnert, daß aber das europäische Gesicht durch mancherlei
außereuropäische Linien seltsam verändert erscheint.

Es bleibt dem Betrachter gleichgültig, daß Kreta, die Inselwelt der Kyk-
laden und das griechische Festland zu Europa gehören. Daß andererseits
Kreta die natürliche Brücke zu Afrika bildet, daß Cypern nach Palästina, die
Kykladen nach Kleinasien hinzeigen und -leiten. Er fragt sich nicht: hängen
die kretisch-mykenischen Volksschichten der Abstammung oder Sprache nach
irgendwie mit indo-europäischen Völkern zusammen? Er fühlt: hier ist etwas,
was meinem Wesen verwandt ist. So hätten wir die Umwelt sehen können
oder vielmehr unsere Vorstellung von der Umwelt hätte in der Kunst einen
gleichen oder ähnlichen Ausdruck finden können. Irgendwann in vergangenen
Tagen. Heute oder morgen. Wenn wir in jenen südlichen Gegenden lebten,
und wenn uns jener fremde Blutstropfen, der unserm Verstände das in der
kretisch-mykenischen Kunst Befremdende erklären soll, beigemischt wäre!

III.

Die kretisch-mykenische Kunst bleibt also vorläufig ein Rätsel. Wird
die Auflösung dieses Rätsels gefördert, wenn ein anderes Rätsel vergleichs-
weise berührt wird? — Die Kunst der Etrusker, die uns neuerdings anfängt
belangvoll zu werden, ist die Kunst eines Volkes, das sich bis tief in die
klassische Zeit hinein politische Selbständigkeit, Sprache und Kultur bewahrt
ha!. Schon als Seevolk der „Teresch" unter den kretisch-mykenischen
Stämmen erwähnt, ist es eines jener wenigen Völker, deren Kunstleistungen
und kulturelle Zustände zu einem Vergleich mit den kretisch-mykenischen
geradezu herausfordern.

Wohl liegen ungefähr tausend Jahre zwischen den zu vergleichenden
Perioden. Kunst und Kultur der Etrusker werden uns in dem Augenblick
erst bekannt, als die letzten Reste kretisch-mykenischer Völker bereits unter
jahrhundertelanger Fremdherrschaft nahezu aufgesogen waren, sich großenteils
mit den neuen Verhältnissen abgefunden und nur da und dort noch ange-
stammte Sprache und Gebräuche bewahrt haften. Auch die Etrusker halten
sich den neuen Anregungen, die in Griechenland aus mykenischer Asche
gleichsam hervorzuleuchten begannen, nicht entziehen können. Doch haftet
dem Etruskischen archaischer Zeit übergenug des Eigenen, Althergebrachten
an, um einen Vergleich mit Kretisch-Mykenischem zuzulassen.

Was immer wieder bei beiden Kulturen als wesensverwandt auffällt, ist
jene besondere malerische und kunstgewerbliche Begabung, die alles andere
weit zurücktreten läßt. Die etruskische Großplastik hat zwar unvergeßliche
Leistungen gezeitigt, aber gerade bei diesen möchte man doch den unter-
italisch-griechischen Einfluß höher bewerten als bei den Grabgemälden und

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