William Cohn: Kunst des Ostens
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am reinsten ausspricht. Der Europäer mag vielleicht
stolz darauf sein, daß er bereits um die Zeit von Christi
Geburt sogar mit seiner Kunst so ferne Völker bezauberte,
das Erzeugnis dieses Ausdehnungsdranges ist aber nicht
anders beschaffen als in allen ähnlichen Fällen in aller
späteren Zeit. Die einheimische Leistung ist vernich-
tet, die fremde nicht verstanden. Die große indische
Kunst, die nur wenig mit Gandhära zu tun hat, ist
von ausgesprochener Eigenart, selbständig nicht mehr
und nicht weniger als jede andere Kunst. Aus ihr spricht
derselbe Geist wie aus den gleichzeitigen, zum Teil
doch so hoch geschätzten litterarischen Schöpfungen
Indiens. Das eine ergänzt das Verständnis des anderen.
Der Inder ist in jeder Hinsicht der Gegenpol des
Menschen der Antike und aller Strömungen, die im
Schatten der Antike leben. Er ist zusammen mit dem
Ägypter vielleicht der größte Plastiker, den die Welt
sah. (Dabei ist zu beachten, daß seine Baukunst in
großem Umfänge eigentlich Plastik war.) Religiöse In-
brunst, so leidenschaftlich und allmächtig wie kaum
irgendwo noch einmal, beherrscht seine Phantasie. Aus-
druck und Bewegung sind die Grundpfeiler seiner Ge-
staltungskraft.
4-
Es ist nicht leicht, sich in Europa mit den Schöp-
fungen der indischen Bildnerei auch nur oberflächlich
vertraut zu machen. Nicht einmal England hatte,
wenigstens bis vor Beginn des Krieges, ein Museum
indischer Kunst (neuerdings hat das Museum zu
Boston eine indische Kunstabteilung eröffnet, die erste
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am reinsten ausspricht. Der Europäer mag vielleicht
stolz darauf sein, daß er bereits um die Zeit von Christi
Geburt sogar mit seiner Kunst so ferne Völker bezauberte,
das Erzeugnis dieses Ausdehnungsdranges ist aber nicht
anders beschaffen als in allen ähnlichen Fällen in aller
späteren Zeit. Die einheimische Leistung ist vernich-
tet, die fremde nicht verstanden. Die große indische
Kunst, die nur wenig mit Gandhära zu tun hat, ist
von ausgesprochener Eigenart, selbständig nicht mehr
und nicht weniger als jede andere Kunst. Aus ihr spricht
derselbe Geist wie aus den gleichzeitigen, zum Teil
doch so hoch geschätzten litterarischen Schöpfungen
Indiens. Das eine ergänzt das Verständnis des anderen.
Der Inder ist in jeder Hinsicht der Gegenpol des
Menschen der Antike und aller Strömungen, die im
Schatten der Antike leben. Er ist zusammen mit dem
Ägypter vielleicht der größte Plastiker, den die Welt
sah. (Dabei ist zu beachten, daß seine Baukunst in
großem Umfänge eigentlich Plastik war.) Religiöse In-
brunst, so leidenschaftlich und allmächtig wie kaum
irgendwo noch einmal, beherrscht seine Phantasie. Aus-
druck und Bewegung sind die Grundpfeiler seiner Ge-
staltungskraft.
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Es ist nicht leicht, sich in Europa mit den Schöp-
fungen der indischen Bildnerei auch nur oberflächlich
vertraut zu machen. Nicht einmal England hatte,
wenigstens bis vor Beginn des Krieges, ein Museum
indischer Kunst (neuerdings hat das Museum zu
Boston eine indische Kunstabteilung eröffnet, die erste