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Clemen, Paul [Hrsg.]
Belgische Kunstdenkmäler (Band 1): Vom neunten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts — München, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.43817#0058
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lassen sich noch mühsam in seiner Bogenlaibung erkennen. — Dagegen zeigt das Nord-
portal oder die »Porte Mantile< (Abb. 43) — nach der auf einem seiner Bogenreliefs dar-
gestellten Legende der Heilung des blinden Mantilius durch Sankt Eleutherius genannt —
in vielen Figurenszenen und -Ornamenten interessante Stilproben, die einen künstlerischen
Zusammenhang mit der im 12. Jahrhundert so maßgebenden, romanischen Bildnerei der
Provence aufweisen: die gleichen in linearem Rankenwerk fein ornamentierten Würfel-
kapitelle auf merkwürdig vielfältig kannelierten und gewundenen Säulen, dieselben über-
lang gestreckten Gestalten, durch den Blockzwang im Körperumriß gebunden und mit
symmetrischen, in sorgsamer Ornamentik gelegten Gewandfalten linear bedeckt, dieselben
allegorischen Chimärenformen aus Mensch und Tier, Tier und Pflanze.
Trotz der hier in Plastik und Ornament noch deutlich vorherrschenden, romanischen
Formensprache im einzelnen zeigen die beiden Seitenportale des Tournaiser Langhauses
im Norden wie im Süden in ihrem Gesamtaufbau doch eine bereits sehr fortgeschrittene
Gestaltung: beide Rundportale sind in eine dreipaßähnlich gebrochene, im Charakter
wesentlich frühgotische Gesimsnische eingestellt.
Denselben Gegensatz eines entwickelten Bausystems zu einer in romanischem Sinn konser-
vativen Bildung der formalen und konstruktiven Einzelheiten zeigt das Architekturinnere
des 1171 geweihten Langhauses. Jedes Geschoß erscheint durch deutliche Gesimsbildung als
ein Selbständiges für sich getrennt. Aus prachtvoll reichen Bündelpfeilern spätestromanischen
Stils — runde Halbsäulen an den vier Seiten, prismatische Dreiviertelsäulen in den Ecken
um einen kreuzförmigen Kern geordnet — steigen durch ebenso reiche Rankenkapitelle ver-
mittelt die schwungvollen, mehrfach vierkantig eingetreppten Bogengurte der massiven
Erdgeschoßarkaden auf. Von einem durchlaufenden Horizontalgesims getrennt erhebt sich
wie eine vereinfachte Wiederholung des Erdgeschosses die gleich hohe Bogenreihe der
Empore, allein durch ihre Pfeilerform individuell charakterisiert: übereck gestellte qua-
dratische Prismen, von zierlichen achtseitigen Säulchen diagonal vorgelagert im Sinn der
frühgotischen kantonierten Säule. — Fast dasselbe Höhenmaß zeigte der ursprünglich ganz
schlicht gehaltene Oberlichtgaden mit den einfach gereihten, großen Rundbogenfenstern.
Zwischen ihm und der Empore ist aber noch die gedrückt niedrige, kleine Bogenfolge
eines blinden Triforiums eingeschoben an der Stelle, wo im basilikalen Querschnitt die Pult-
dächer der Seitenschiffe an die Mittelschiffshochwand anstoßen. Dieses Triforium ordnet
die doppelte Anzahl kleiner Bogen auf eine große Arkade der Untergeschoßjoche an. Die
Triforiumshöhe gleicht genau der Spannweite eines dieser kleinen Bogen: das für alle roma-
nische Baukunst so typische, quadratische Verhältnis.
Zweierlei bestimmt den Eindruck dieses viergliedrigen, spätromanischen Langhaussystems:
die Abnahme an Zierformen und plastischer Gliederung —- im Innern von unten nach
oben, im äussern von oben nach unten —, was merkwürdigerweise beidesmal den gleichen
Effekt einer dynamischen Erleichterung des Wandaufbaus hervorbringt, und jener eigen-
tümlich ernste Gesamteindruck ruhig breiter Lagerung. — Daß aber dieses formal wie
architektonisch so romanische Langhaussystem dennoch vier Geschosse aufzuweisen hat,
wirkt wie ein entwicklungsgeschichtlicher Widerspruch zu seinem durchgeführten Kon-
servatismus der Form und der Konstruktion, erscheint nur erklärlich aus einem Jahr-
hundert wie dem zwölften, als die auch für die Südniederlande vorbildliche französische
Frühgotik ihre von reichster baulicher Erfinderkraft zeugenden, mannigfaltigen Versuche
unternahm (Taf. 6).

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