MÜNSTER
Fig. 44. ES Neithart-Kapelle n III
— im Erdgeschoß des 1899 vollendeten Verwaltungsgebäudes
gegenüber dem Nordostportal — eingesetzt, nach 1923 mit
dem neu eingerichteten Archiv in den südlichen Chorturm, die
Rüstkammer über der Sakristei gelangt, wo sie bis zur Kriegs-
bergung verblieb33. Erst mit den Wiederherstellungsarbeiten
am Münster in den 50er Jahren erhielt die Georgsscheibe ihren
vorläufig letzten Standort in der Neithart-Kapelle. Vgl. auch
die Rekonstruktion des Westportalfensters S. 209 h
Erhaltung: Im Randbereich unwesentlich ergänzt, doch von
Frenzei großflächig doubliert; sämtliche Doublierungen sind
inzwischen stark vergilbt und trüben das farbige Erschei-
nungsbild der Scheibe erheblich. Harte Kaltretuschen des 19.
Jh. auf alten und abgewitterten weißen Gläsern, besonders im
Pferdekopf, sind im Zuge der letzten Restaurierung wieder
getilgt worden. Spuren rückseitiger Bemalung (Halbtonlasu-
ren) sind nurmehr an wenigen der nicht doublierten Teile, im
Kopf der Königstochter und in den Vorderhufen des Pferdes
zu finden. Für die Versetzung des Feldes in das Fenster nord
III der Neithart-Kapelle nach dem Krieg wurden seitliche
Randstreifen mit Butzen angestückt. Großteils moderne Ver-
bleiung.
Ikonographie, Komposition: Die Legende vom Drachenkampf des
Hl. Georg, die erstmals im 12. Jh. in einer lateinischen Samm-
lung von Heiligenviten greifbar wird und offenbar von den
Kreuzfahrern im Abendland heimisch gemacht wurde, erlang-
te über die Legenda aurea eine derartige Verbreitung, daß sie
im Verlauf des 14. und 15. Jh. zur bei weitem überwiegenden
bildlichen Darstellung des Heiligen avancierte34. Georg, Ritter
aus kappadokischem Geschlecht, befreit die Stadt Silena in
Lybia von der Geissel eines giftigen Drachen, dem täglich ein
Mensch und ein Schaf geopfert werden mußten. Er überwin-
det den Drachen und rettet die Tochter des Königs35.
Die Ulmer Georgsscheibe setzt, ebenso wie mehrere sehr ver-
wandte Wiedergaben des Drachenkampfes mit dem aufge-
bäumten Pferd inmitten einer weiten Fels- und Seelandschaft
mit Burg und Stadtkulisse, die gleichfalls in der ersten Hälfte
des 15. Jh. im südwestdeutschen Raum entstanden, die Kennt-
nis franko-flämischer Vorbilder der Buch- und Tafelmalerei
voraus. Reisinger hat hierfür zutreffend auf das frühe Bei-
spiel im Stundenbuch des Marschall von Boucicaut (Paris, Mu-
see Jacquemart-Andre, gegen 1405) hingewiesen36, doch gera-
de im Hinblick auf die detaillierte Landschaftsschilderung
müssen noch fortgeschrittenere Fassungen nach Art der klei-
nen Rogierschen Tafel (Washington, National Gallery of Art)
bekannt gewesen sein37. Eine gegensinnige, im übrigen aber
nahezu wörtliche Wiederholung der Ulmer Scheibe auf einem
Tafelgemälde des Bayerischen Nationalmuseums München
(heute Kempten, Alpenländische Galerie) ist zuerst von
Waldburg—Wolfegg als wenig spätere Replik derselben
Werkstatt veröffentlicht worden38. Für ein zeitliches Vorange-
hen der Scheibe spricht tatsächlich die ungewöhnlichere Bewe-
gungsrichtung von rechts nach links in der Kemptener Tafel.
Sowohl die Reitergruppe als auch die reiche, naturalistische
Schilderung der Wiesenblumen auf der Ulmer Scheibe wurden
wenig später von dem Ulmer Maler des Georgskampfes auf
den Außenflügeln des Scharenstettener Altars zum Vorbild ge-
39
nommen .
Georg und zweier Bischöfe beruht auf einem Versehen. Da wir mit
Sicherheit wissen, daß sich zum damaligen Zeitpunkt die Hll. Aegidius
und Nikolaus — d.h. ein Bischof und ein Abt - im Fenster nord XI und
daneben ein gerüsteter Hl. Michael mit dem Drachen befanden, muß eine
Verwechslung mit der heute gleichfalls deponierten Michaelsdarstellung
vorliegen; umso mehr, als eine Bauaufnahme von 1829 die Fensterreste
eindeutig als Drachenkampf des Hl. Michael erfaßt (s. S. 232) und eben
dieselben Reste nach der Neuverglasung des nördlichen Seitenschiffes
(1893—1907) bis zur Kriegsbergung 1941 im südlichen Langhausoberga-
den abgestellt worden waren (Pfleiderer, 1907, S. 179); noch Wort-
mann, A981, S. 55, ist diese Verwechslung unterlaufen.
33 Vgl. Pfleiderer, 1907, S. 220, bzw. ders., 2i923, S. 208f.
34 Vgl. Sigrid Braunfels-Esche, in: LCI VI, 1974, Sp. 3y8ff., und
dies., Sankt Georg. Legende, Verehrung, Symbol, München 1976, S. 21
ff., und Klaus J. Dorsch, Georgszyklen des Mittelalters (Europäische
Hochschulschriften, Reihe XXVIII. Kunstgeschichte, 28), Frank-
furt/Bern/New York 1983, S. 18-24.
35 Zum Text der Legenda aurea s. Benz, 9i979, S. 300—306.
36 Reisinger, 1985, S. 212; vgl. Meiss, II, 1968, Abb. 10. Weitere Bei-
spiele dieser frühen Stufe bei Erwin Panofsky, Early Netherlandish
Painting, Cambrigde 1953, II, Taf. 83.
37 Vgl. Panofsky (s. Anm. 36), 1953,1, Anm. 1744, 298\ Abb. 273, Max
J. Friedländer, Early Netherlandish Painting II: Rogier van der Wey-
den and the Master of Flemalle, Brüssel 21967, Supp. 130, und Martin
Davies, Rogier van der Weyden, München 1972, S. 86 f., Abb. 86. Ein
Vorbild dieser Stufe spiegelt auch die um 1430 entstandene seeschwäbi-
sche Zeichnung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg; vgl.
Fritz Zink, Die Handzeichnungen bis zur Mitte des 16. Jh. (Die deut-
schen Handzeichnungen 1), Kataloge des Germanischen Nationalmu-
seums, Nürnberg 1968, Kat. Nr. 5; auf die niederländische Heimat der
Vorlage könnte die Windmühle im Hintergrund hindeuten.
38 Zuletzt Hans Peter Hilger, in: Kat. Alpenländische Galerie, Kemp-
ten, Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums, München 1991,
Kat. Nr. 13; vgl. Waldburg-Wolfegg, 1939, S. 82, Abb. 23b, bzw. um-
gekehrt Lehmbruck, 1968, S. 49f., Abb. 98, und Pee, 1968, Nr. 98, die
das Glasgemälde aufgrund seiner weicheren Modellierung um rund ein
Jahrzehnt später entstanden wissen wollen. Reisinger, 1985, S. 212, gibt
wieder dem Glasgemälde den Vorzug, lehnt aber eine Werkstattbezie-
hung ab, da er irrtümlich von einer Entstehung der Scheibe in Flandern
ausgeht.
39 Waldburg-Wolfegg, 1939, S. 82; vgl.Julius Baum, Ulmer Kunst,
Stuttgart/Leipzig 1911, Taf. 1.