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CHORFENSTER SÜd II (ANNEN-MARIEN-FENSTER)

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Im Raum mit grünen und violetten Fliesen verteilt rechts das
braun/gelbe Mobiliar (durch rote und hellblaue Flicken verun-
klärt und in sich verschoben), dazwischen ein rotes Buch mit
weißem Schnitt und eine hellblaue Henkelkanne. Links hinter
Maria ein köstlich gemusterter gelbgrüner Stoffbehang, dar-
über das grauweise, kobaltblau gestreifte Handtuch auf gelber
Stange. Die Doppelsäulen am linken Rand über gelb/rot/gel-
bem Postament: die äußere weiß gewirtelt mit rosa Säulen-
schaft, die innere gelb gewirtelt mit moosgrünem Schaft. Im
Hintergrund schmale violette Architekturstützen, links mit
rosa, rechts mit weißer Stirnkante.
Nierenrankengrund: hinter Maria dunkelblau, rechts über den
Möbeln moosgrün.
LBW 42122; CVMA G 8338, Detail G 8367
5c JOSEPHS ERSTER TRAUM Taf. XIIc
Komplett neu von F. X. Zettler (1908/1 o)133.
LBW 42123; CVMA G 255, G 8339, Details G 8368f.
5d GEBURT CHRISTI Fig. 9, Farbtaf. I, Abb. 99
H. 88 cm, B. 57,5 cm.
Einziges figürliches Feld der unteren Fensterhälfte, das von
Kellner 1870 dort belassen worden war (vgl. Taf. Xlla).
Erhaltung: Außergewöhnlich gut. Ergänzungen bleiben im we-
sentlichen auf die Randzonen, die Strahlenglorie und den Stall
beschränkt. Verschiedentlich wurden ältere Scherben aus ande-
ren Zusammenhängen hier eingeflickt, wobei nicht zu ent-
scheiden ist, ob diese Eingriffe auf Kellner zurückgehen oder
bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt waren; für letzte-
res spricht die in Glas und Zeichnung sehr gut angepaßte vor-
kellnersche Reparatur am Strohdach des Stalls. Die Bemalung
— insbesondere der Köpfe und des nackten Kindes — hat keine
nennenswerten Verluste erfahren. Etwas beeinträchtigt wird
das gute Gesamtbild durch Sprungbleie in Kopf, Händen und
Mantel Marias, dem Josephskopf sowie Stalldach und Strah-
lenkranz. Mit Ausnahme des hellen graublauen Glases im Stall-
dach tragen alle alten Teile außenseitig eine dicke weiße Wet-
tersteinkruste; Transparenz und Leuchtkraft sind dennoch we-
nig gemindert.
Ikonographie, Komposition: Der Darstellungstypus der Geburt
Christi als »Anbetung des Kindes in der Strahlenglorie« geht
auf die Vision der Hl. Birgitta von Schweden aus dem Jahr
1373 zurück, die ihrerseits aus älterem franziskanischem
Schrifttum — den um 1300 verfaßten Meditationes vitae Christi
des Pseudo-Bonaventura — schöpfte134. Maria kniet bildbeherr-
schend vor dem »nackt und leuchtend auf der Erde liegenden«
Gottessohn, Joseph blickt eben erst von draußen in den Stall
herein; im Hintergrund die Krippe mit Ochs und Esel. Der
Vision fast wörtlich folgend erscheint die Jungfrau nur mit
einer Tunika bekleidet; den Schleier hat sie vom Kopf genom-
men und neben sich gelegt13/ ihr Haar fällt lose auf die Schul-
tern. Ungewöhnlich, wenngleich nicht ohne Parallelen in der
Tafelmalerei ist das zinnoberrote Gewand Marias.
Farbigkeit: Auf moosgrünem Rasenboden kniet Maria in Rot
(der Uberfang im Kniebereich ist stark abgewittert und heller;
zwei kleinere Umschläge zeigen das kobaltblaue Gewandfut-
ter); Nimbus dunkelblau mit weißem Zierrand. Am Boden vor
ihr liegen das nackte Kind im gelben Strahlenkranz und der

schmutzig weiße Schleier. Joseph mit tiefblauem Rock (nahezu
opak) und braunrotem Hut mit hochgeschlagener gelber
Krempe. Inkarnate und Haare blaßbraun. Die aus Weidenruten
geflochtene Krippe gelb mit weißen Pflöcken, darin moosgrü-
nes Heu; das Flechtwerk des Stalls rotbraun (teilweise von
Kellner grellviolett ergänzt), das Strohdach hell graublau. Esel
dunkelgrau (fast opak), Ochse braunrot mit beinfarbenen Hör-
nern.
Architekturrahmen links weiß mit graublauem Zwickel, rechts
weiß gewirtelte Säule mit rosa Schaft, Fuß und Kapitell gelb.
Datierung: Der neue ikonographische Typus verbreitete sich
erst langsam um 1400 im deutschen Raum als Folge der Heilig-
sprechung Birgittas 1391136. Die frühesten erhaltenen Beispiele
im großen Maßstab entstammen durchweg erst dem Beginn
des 15. Jh.13 . Nächste Parallelen zum vorliegenden Ulmer Bild
zeigen die Tafel eines schwäbischen Marienaltars aus der
Schloßkapelle in Nassenfels (um 1400/10)138 oder die Reste
eines Altars im Konstanzer Rosgartenmuseum (um 1410/20)139.
LBW 42124; CVMA G 8339, Ektachrome G 25 5

133 Vgl. Schiller I, 3i98i, S. 67 k Die im Fenster hängende Wasserfla-
sche käme als Hinweis auf die im selben Kontext stehende Wasserprobe
aus dem apokryphen Protevangelium des Jakobus in Betracht; vgl. dazu
Schneemelcher I, 61990, S. 345.
134 Vgl. hierzu bereits S. 20, Anm. 4; die betreffende Textstelle ist bei
Schiller 1, 3i98i, S. 89, im Wortlaut wiedergegeben.
135 Oder sind im Bild die »kleinen Leinenstücke« gemeint, die Maria
neben sich legte, »um damit das erwartete Kind einzuhüllen«? (zum Text
vgl. die vorige Anm.).
136 Hierzu nochmals Schiller I, 3i98i, S. 88.
137 In böhmischen Handschriften aus dem Umkreis der Wenzelswerk-
statt kommt der Typus um 1400 jedoch schon mehrfach vor: Missale
Wenzels von Radec (um 1395); Hasenberg-Missale (1409); Missale Wien
lat. 1850 (1409); Vesperale von Zittau (1409); vgl.: Otto Kletzl, Stu-
dien zur böhmischen Buchmalerei, in: Marburger Jb. für Kunstwissen-
schaft 7, 1933, S. 69; Heinrich Jerchel, Das Hasenbergische Missale
von 1409, in: ZDVfKw 4, 1937, S. 218—241; Kat. Ausst. Parier, 1978, II,
S. 746, 751, 756. Zu den frühesten erhaltenen Beispielen zählt auch die
Blume des Sachsenspiegels von 1397 (Ernst Kloss, Die schlesische
Buchmalerei des Mittelalters, Berlin 1942, Abb. 119).
138 Vgl. Kurt Martin, Ein Augsburger Altar aus dem Anfang des 15.
Jh., in: Neue Beiträge zur Archäologie und Kunstgeschichte Schwabens
(FS Julius Baum zum 70. Geburtstag), Stuttgart 1952, S. 65—76, Abb.
29—34. Zwei relativ gut erhaltene Tafeln mit der Anbetung des Kindes
und der Darbringung im Tempel, auf der Rückseite eine Maria der Ver-
kündigung, befinden sich heute in der Karlsruher Kunsthalle (Jan
Lauts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Kat. Alte Meister bis 1800,
Karlsruhe 1966, Text S. 34, Abb. S. 12), zwei zugehörige Tafeln schlech-
ten Zustands mit der Heimsuchung und der Anbetung der Könige im
Klostermuseum Ottobeuren bzw. in Pariser Privatbesitz (Stange, DMG
IV, 1951, S. 120f., Abb. i84f.).
139 Stange, DMG IV, 1951, S. 27f., Abb. 27, und zuletzt Bernd Kon-
rad, Kat. Rosgartenmuseum Konstanz, Die Kunstwerke des Mittelal-
ters, Konstanz 1993, S. jof. Die Konstanzer Fassung, die übrigens der
Hl. Birgitta selbst einen Platz im Bild einräumt und damit die Herkunft
des Typus offenlegt, geht in der räumlichen Anordnung und der Fülle
der Details bereits entschieden über die komprimierte Ulmer Komposi-
tion hinaus.
 
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