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büchern und Zeitschriften in Masse austauchten, fallen. Schwarz-
brod als Delikatesse oder Wetzstein der verzärtelten Gaumen, eine
rohe Fichtenwaldpartie mitten im ftanzösisch gezierten Park, frischer
Heuduft in den Lavendel durchräucherten Salons.

Durch einen einzigen Roman eines nordischen Dichters aber
bekam die Dorfgeschichte mit Eins eine andere Richtung, und neben
der gedachten noch eine andere Bedeutung; durch Jmmermanns Münch-
hausen. Wir haben nicht von der Satyre zu reden, die am Titel-
helden seinem Wirthe, Agesel, den Reisenden rc. die Ausartung des
Geistes in neuzeitlichen Bestrebungen geißelt und brandmarkt; auch
nicht von der Geschichte des Waldburg und der Elsbeth und dem
darin gezeichneten Ideal einer Versöhnung reinen und kräftigen Na-
turgefühls mit den Traditionen der Convenienz; sondern nur von
der Geschichte des Hofschulzen, dessen an Wahrheit unübertreffliches
durch den Inhalt so ergreifendes Bild ein Meister- und Musterstück
ist für viele Zeiten. Dieser nun bietet nicht blos eine interessante
Geschichte, sondern ein geschichtliches Interesse. Der Nachweis, daß
in dem sonst ganz unbeachteten Bauernleben noch ein lebendiger Trieb
altgeschichtlicher Tradition von eben so poetischer, als sittlicher Be-
deutung fortlebt, daß dieser auf ganz entgegengesetzte Weise, aber doch
in gleichem Grade als die hochadelige Convenienz durch zähes Fest-
halten an hergebrachten Formen und „gesetzten Manieren", im Kampfe
mit der Neuzeit sich befindet, dieser Nachweis hat der Schilderung
ein durchaus neues und eigenthümliches Interesse eingeslößt. Es
war nicht die Einfachheit und Natürlichkeit des Landlebens, nicht die
Einfalt des Landmanns, sondern die sittliche Bedeutung der charakte-
ristischen Abgeschlossenheit und damit auch des abgeschlossenen Charakters
des Bauern.

Dies war der diametrale Gegensatz gegen die Idylle und den
idyllischen Roman. Hier wird das Dorfleben im Unterschiede von
dem der Civilisation und Geschichte gezeigt, außer der Schußlinie
derselben gestellt, so daß es von den Pfeilen und Todeszuckungen
wechselnder Epochen frei bleibt; der Landmann kennt hier, wie die
Natur selbst, nur Jahreszeiten und keine Jahreszahlen, ist wie die
Natur voller Unschuld und Frieden, stets verjüngt mit jedem Früh-
ling und abgestorben mit dem Winter, ohne welthistorische Schmer-
zen geboren, und ohne Denkmal geschieden; dort aber hat der Bauer
einen Charakter, von der Einfalt des Naturdaseius weit verschiedene
Sitte, historische Tradition, kurz: Ethik und Geschichte.

Als eine wirkliche und glückliche Vermittelung dieser Gegen-
sätze, eine der Sache und der Wahrheit gemäße Vereinigung beider
Elemente und Bedeutungen des ländlichen Lebens ist besonders die
Dorfgeschichte Auerbachs zu begrüßen. Zwar die natürliche Ein-
fachheit des äußeren, die Beschränktheit des inneren Lebens, die
frische, freudige und zwanglose Freiheit in jenem, die schlichte, naive
und meist leidenschaftslose Form in diesem treten uns hier entgegen;
aber es sind Menschen, Menschen mit innerer Bewegung und Er-
hebung, mit Schmerzen und Kämpfen, mit Freuden, die tiefer als
Schalmeientöne, Leiden, die tiefer als Schäferliebesklagen in unser
Herz dringen. Es ist nicht wie in der alten Idylle, die gänzlich
charakterlose Natürlichkeit, doch der natürliche Charakter, des
unter engen Verhältnissen lebenden Menschen.

Die allgemeine Bedeutung der Dorfgeschichte ist hier die Dar-
legung, daß der Mensch als solcher in allen Verhältnissen der gleiche
ist, daß die mehreren unter allen Umständen auf gleiche Weise und
gleich sehr von einander verschieden sind, daß auch in der engsten
Sphäre die Eigenthümlichkeit, das ächte und erste Merkmal des Men-
sch enthum§> die Individualität sich entfaltet, daß darum auch das
Bauernleben reich und mannigfaltig ist in den Graden und Weisen
des Gefühls, in den Höhen und Tiefen des Sinnes, in der Lauter-
keit und Verkehrtheit der Gesinnung; daß das Bauermädchen öfter
als die Städterin naiv, aber zuweilen auch verschmitzt, der Bursche

oft wacker, aber auch ränkevoll, die Alten leutselig, aber auch tückisch
sind; es kommt dazu noch, daß oft das Streben des Einzelnen sich
hinaus über den sonst engen Kreis und in den weiten des nationa-
len öffentlichen Lebens ans irgend eine Weise hineinwagt, daß öfter
noch die allgemeinen Bestrebungen und Geschicke über die Mauern
der Städte hinaus und in das Leben und das Herz eines Dorfbe-
wohners hineingreifen, und sich Conflikte erzeugen, welche auch den
Bauern mitten auf dem Schauplatz der Cultur- und politischen Ge-
schichte zeigen. Hier treten denn also Fragen von ebenso allgemein
menschlicher, als wiederum von speciell zeithistorischer Bedeutung ins
Leben. Das ländliche Dasein wird also hier nicht von seiner na-
tureinfältigen Seite und darum auch nicht als vorzugsweise und in
eigener Art poetisch aufgefaßt, wie in der Idylle, sondern von der
sittlich-charakteristischen und bildet darum ein kaum abgesondertes Ge-
biet der poetischen Stoffe. Hiermit hängt auch die Verschiedenheit
der Form innig zusammen. In der Idylle waltet eine in rythmi-
schen und gereimten Versen oder hochtönender Prosa (Geßner) sich
ergießende Wohlredenheit; die Dorfgeschichte hat die realistische Form
einer bestmöglichen Treue der Copie im Dialekt und besonders der
Ausdrucksweise, auch wo sie in Schriftsprache übersetzt ist. Jene er-
innern an die zierlichen Bilderchen, wo der Schäfer mit seidenen
Sttümpfen, Zierdegen und Dreimaster, die Schäferin mit gepuder-
tem Haar und gesteiftem Rosa-Rock dargestellt sind, — diese an
gute Niederländer hinter Bierkrügen und vor dampfenden Braten. —
Dieser Realismus in der Form und Darstellung der Dorfgeschichten
bildet aber nicht blos ihren Gegensatz gegen die alte Idylle, sondern
macht in der litterarhistorischen Stellung derselben ein wesentliches
Verdienst aus; sie haben die Poesie, welche in den letzten Decennien
mit einem, wie es schien, unlösbaren Bann in dem Gebiet der Phrase
gefesselt war, mit Eins aus dem Bereiche derselben hinausgehoben
und ihr die naturwahre Rede wieder in den Mund gelegt. Vielleicht
dies am meisten erklärt jene ungetheilte Theilnahme, deren sie sich
sogleich erfreuten.

Ist dies die allgemeine Bedeutung der Dorfgeschichten, dann
hat jede einzelne — wiederum im (letzten) Gegensätze gegen das bloß
Idyllische, wobei es immer auf Eins hinauskommt — eine besondere
Bedeutung, eine durch die Individualität der Charaktere oder der
Verhältnisse bestimmte. Sie besteht in der poetischen Ausmünzung
sittlicher Ideen in Lebensbildern, in der psychologischen Entfaltung
einer allmäligen moralischen Erhebung oder Erniedrigung eines Cha-
rakters, welche zum sittlichen Vor- oder Schreckbilde dient. Gleich-
zeitig mit der deutschen Dorfgeschichte hat in Frankreich und England
die Romanliteratur ihre Stoffe theilweis aus den niederen Volks-
klassen erwählt; aber in Frankreich ist der haarsträubende, nieren-
erschütternde Proletarierroman, in England der humoristische Volks-
roman entstanden. Mag man immerhin die Ursache dafür, daß bei
uns das Leben des niederen städtischen Volkes nicht eben so zur
Darstellung gelangt ist, in einem politischen oder socialen Mangel
Deutschlands suchen; ein Mangel an poetischer Darstellungsfähigkeit
ist es sicherlich nicht, das beweisen eben die Dorfgeschichten. Diese
haben mit jenen Romanen noch die innere Verwandtschaft, nicht
blos eine im Allgemeinen sittliche, sondern ganz specielle und spe-
cifische Tendenz zu verfolgen, d. h. einen nicht sowohl allgemeinen
und anerkannten Gedanken, sondern eine den augenblicklichen Zeit-
interessen betreffende Frage lebensbildlich auszuprägen, sich dabei mit
Absicht für oder wider zu entscheiden. — Wir haben bis jetzt nur
den Namen Auerbach's genannt, aber gerade in Bezug auf ihn
müssen wir den letzten Satz näher begrenzen. — Die Tendenz im
prägnanten Sinne unterscheidet sich von dem sittlichen Gehalt, wel-
cher jedem wahren Kunstwerk zu Grunde liegt, nicht blos dadurch,
daß dieser die ewigen Elemente des Sittlichen betrifft, von allen
particulären und augenblicklichen Interessen fern liegt, und darum
 
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