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auch für alle Zelten Werth und Geltung hat, jene aber, wie gesagt,
sich auf eine momentane Frage, einen dem Streite der Parteien noch
unterlegenen Inhalt bezieht, sondern auch dadurch, daß diese die aus-
drückliche und sichtbare Absicht einschließt, einen bestimmten Gedan-
ken zu befürworten oder zu vertheidigen, während jedes andere
Kunstwerk den sittlichen Grundgedanken als einen ungesuchten Erfolg
auftreten läßt. Es ist aber offenbar, daß zuweilen sogar der sitt-
liche, immer und jedenfalls aber der ästhetische Werth eines Kunst-
werks durch die Tendenz im engeren Sinne verringert wird; die
ästhetischen Gesetze verweisen die specifischen Tendenzen aus der
Sphäre der Kunst theils deshalb, weil die Ideen, worauf ihre Werke
basiren, weiter und unbestritten sein sollen, damit auch die Wirkung
allgemeiner und tiefer sein könne; theils weil der künstlerischen Ge-
staltung des Stoffes, der ästhetischen und inneren Wahrheit der Ent-
wickelung, der Ausprägung der Charaktere und Wahl der Ereignisse
durch die Vorgesetzte Richtung auf einen tendenziösen Schluß Fesseln
angelegt werden, und mit der Freiheit und Wahrheit auch die Schön-
heit einbüßen muß. Auch Auerbach hat, zwar nicht in allen, aber
doch in vielen seiner Dorfgeschichten der früheren drei Bände eigent-
liche Tendenz, und diese können durchaus nicht zu seinen besten ge-
zählt werden. Fast niemals aber gewinnt sie ein solches Ansehen
und einen solchen Einfluß, daß sie uns als eine parteiische oder gar
leidenschaftliche entgegentritt, daß sie die lichtvolle Wahrheit seiner
Schilderung verschallet, dem ästhetischen Werth und Genuß seiner
Werke Eintrag thut. In dem vorliegenden Bande aber hat er, zu-
mal in der größten Geschichte, dem Lehnhold, in dieser Beziehung
eine vielleicht unübersteigliche Höhe erreicht; zunächst in Bezug auf
die Tendenz, dann aber auch in den übrigen ästhetischen Bezügen.
Der Roman und überhaupt die Erzählung kann in ihrer freieren
Bewegung verschiedene Momente zu ihrer besonderen Aufgabe ma-
chen, allein oder vorwalten lassen. Sie kann entweder darauf ge-
richtet sein, eine sittliche Idee zur Anschauung zu bringen, Personen/
Charaktere, Verhältnisse und Situationen nur im Dienste dieser
poetisch zu gestalten, so daß dann auch nur das Maaß der Klarheit
und Eindringlichkeit, mit welcher jene hervortritt und uns ergreift,
zum Maßstabe ihres Werthes gemacht werden darf (eine höhere Stei-
gerung dieser Richtung ist eben der Tendenzroman). Dies gilt vor-
züglich von den Geschichten Jeremias Gotthelfs und in anderer
Weise auch von den neueren französischen Romanen.
Dann aber kann die Erzählung vorwiegend auf die Darstellung
eines bestimmten Charakters, oder einer besonderen, den ganzen
Charakter und das innere Leben des Menschen bedingenden und be-
herrschenden Leidenschaft (in komischen Romanen einer besonderen
Manier oder Manie) gerichtet sein. Hier wird die Wahrheit, Ge-
nauigkeit und Lebendigkeit der psychologischen Entwickelung den Maß-
stab des Werthes hergeben. Ein ganz ausgezeichnetes Beispiel die-
ser Gattung ist Auerbach's Diethelm vom Buchenberg. Eben so tief
als wahr, so genau als lebendig gezeichnet, wird diese Gestalt gewiß
jedem Leser ein unauslöschliches Bild in der Seele zurücklassen. H
Wir erinnern uns nicht, selbst bei den besten Meistern psychologi-
scher Motivirung, Scott und Bulwer, Boz und Bell und Auerbach
selbst mit eingerechnet, jemals ein Gemälde einer eigentlich einzelnen
Handlung so genau und vollkommen vom Anfang der Beweggründe
bis zum Ende der Bestrafung durchgeführt zu finden, das so poin-
tirt und doch so natürlich, mit so starken Lichtern und so scharfen
Schatten doch so Llglatt in unsere Seele eindringt, das sie fortwäh-
rend spannt und befriedigt, das den Rechtssinn und das Mitleid
*) Gotthelfs Hagelhans int Blitzloch (im Uli), Grutenbauer (in Geld und
Geist) oder Barthli, anch Rank's Nachtwächter (im Florian) n. dergl. können
wohl neben dem alten Gottfried (in Erdmnthe) oder dem „Schloßbanern" von
Anerbach genannt werden, aber nicht neben dem Diethelm.
immer zugleich rege erhält. In gleicher Linie steht der historische
Roman mit seiner bestimmten Absicht, gewisse Zeiten, politische und
Culturepochen malerisch zu zeichnen.
Endlich kann die Erzählung theils in Verbindung mit, theils
im Unterschiede von den vorigen Elementen, vorzüglich auf die for-
mell künstlerische Gestaltung, auf Schürzung und Entwickelung des
Knotens, auf rythmische Ordnung der Situationen und Charaktere
gerichtet sein, eine Gattung, in welcher sich bei uns besonders Spind-
ler ausgezeichnet hat.
In dieser Mehrheit und Verschiedenheit der kritischen Maßstäbe
besitzen wir den Apparat, um selbst die größte Kunsthöhe des Ro-
mans zu ermessen, aber auch den niederen Anhöhen eine gerechte
Schätzung angedeihen zu lassen.
Betrachten wir hiernach die einzelnen Werke, so finden wir
I.
in Auerbachs Lehnhold eine Erzählung, deren höchster Werth darin
besteht, daß nicht blos sämmtliche aufgezeigte ästhetische Elemente,
sondern zugleich so gleichmäßig und harmonisch, darin vertreten sind,
daß es schwer sein würde, zu behaupten, ob es vorwiegend ein Ten-
denzroman, oder eine Characterschilderung oder eine Kunstnovelle im
engeren Sinne sein soll. Es ist nicht unsere Absicht, die dem Kri-
tiker selten vergönnte Freude, seine Freuden an einem Werke darzu-
legen, ganz durchzukosten, und damit Auerbachs Werken Anerkennung
zu verschaffen; sie ist laut und schweigend so allgemein, daß es deren
nicht bedarf. Vielmehr kam es nur darauf an, den literarhistorischen
und ästhetischen Gesichtspunkt zu entwickeln, aus welchem man seine
Schöpfung anzusehen hat. Zur Begründung unseres Urtheils aber,
haben wir Folgendes hervorzuheben. Der Grundgedanke, die Ten-
denz der Erzählung ist die zur Zeit der öffentlichen Discussion
unterworfene und würdige Frage der Majoratserbschaft. Wiewohl
in seiner Ansicht entschieden, ist der Verf. doch so leidenschafts-, man
kann sagen, parteilos, daß er die streitenden Rücksichten mit gleich
ungeschwächter Kraft hervortreten und damit die hellsten Lichter auf
die Frage und nicht einseitig auf seine Entscheidung fallen läßt.
Es war sowohl in dieser, die Mäßigung heischenden, als in anderer
künstlerischer Beziehung ein gar glücklicher Griff/ daß und wie der
Verf. uns in eine Versammlung führt, wo der Streitpunkt im all-
gemeinen Interesse erörtert, das Für und Wider mit gleichem Nach-
druck verfochten wird. Wir sehen hier die bei der Frage betheilig-
ten Hauptpersonen der Geschichte, sehen auch, wie sie auf das Ge-
müth und das Geschick eines Jeden auf eine so charakteristische Weise
eingreift; zugleich aber ist die That und Empfindung eines Jeden
so sehr von seinem eigenen individuellen Leben und Charakter be-
stimmt, daß eine innige Verschmelzung des Allgemeinen und Be-
sonderen hier eben so hervorleuchtet, wie sie sich durch die ganze
Erzählung hinzieht. So scharf und individuell sind die Charaktere
und Gemüthsrichtungen verschieden, die daraus folgende Lage ihres
Lebens, die Verhältnisse der Familie find so eigenthümlich, daß uns
ihre innere Entwickelung und ihre äußeren Schicksale zur innigsten
Theilnahme anregen, auch ohne jeden Hinblick auf das allgemeine
Problem, unter dessen Macht sie kämpfen und leiden. Endlich aber
ist der Gang der Ereignisse, der Reichthum, die Abwechselung und
Anordnung der Situationen, die auf steigende Theilnahme zielende
innere und äußere Entwickelung der Gemüths- und Lebenslagen so
künstlerisch vollendet, daß wir weder an den individuellen Reiz des
Inhaltes, noch an das Wohlthuende des Hintergrundes der Ge-
schichte, der kaum schöner und froher gedacht werden kann, als der
Hof eines reichbegüterten Bauern, zu erinnern brauchen, um über
das allseitig Gefällige, sittlich wie ästhetisch Befriedigende dieser Er-
zählung klar zu werden.
Auch von den folgenden drei Erzählungen dieses Bandes könnte
man behaupten, daß jedem ein bestimmter Grundgedanke zu eigen
auch für alle Zelten Werth und Geltung hat, jene aber, wie gesagt,
sich auf eine momentane Frage, einen dem Streite der Parteien noch
unterlegenen Inhalt bezieht, sondern auch dadurch, daß diese die aus-
drückliche und sichtbare Absicht einschließt, einen bestimmten Gedan-
ken zu befürworten oder zu vertheidigen, während jedes andere
Kunstwerk den sittlichen Grundgedanken als einen ungesuchten Erfolg
auftreten läßt. Es ist aber offenbar, daß zuweilen sogar der sitt-
liche, immer und jedenfalls aber der ästhetische Werth eines Kunst-
werks durch die Tendenz im engeren Sinne verringert wird; die
ästhetischen Gesetze verweisen die specifischen Tendenzen aus der
Sphäre der Kunst theils deshalb, weil die Ideen, worauf ihre Werke
basiren, weiter und unbestritten sein sollen, damit auch die Wirkung
allgemeiner und tiefer sein könne; theils weil der künstlerischen Ge-
staltung des Stoffes, der ästhetischen und inneren Wahrheit der Ent-
wickelung, der Ausprägung der Charaktere und Wahl der Ereignisse
durch die Vorgesetzte Richtung auf einen tendenziösen Schluß Fesseln
angelegt werden, und mit der Freiheit und Wahrheit auch die Schön-
heit einbüßen muß. Auch Auerbach hat, zwar nicht in allen, aber
doch in vielen seiner Dorfgeschichten der früheren drei Bände eigent-
liche Tendenz, und diese können durchaus nicht zu seinen besten ge-
zählt werden. Fast niemals aber gewinnt sie ein solches Ansehen
und einen solchen Einfluß, daß sie uns als eine parteiische oder gar
leidenschaftliche entgegentritt, daß sie die lichtvolle Wahrheit seiner
Schilderung verschallet, dem ästhetischen Werth und Genuß seiner
Werke Eintrag thut. In dem vorliegenden Bande aber hat er, zu-
mal in der größten Geschichte, dem Lehnhold, in dieser Beziehung
eine vielleicht unübersteigliche Höhe erreicht; zunächst in Bezug auf
die Tendenz, dann aber auch in den übrigen ästhetischen Bezügen.
Der Roman und überhaupt die Erzählung kann in ihrer freieren
Bewegung verschiedene Momente zu ihrer besonderen Aufgabe ma-
chen, allein oder vorwalten lassen. Sie kann entweder darauf ge-
richtet sein, eine sittliche Idee zur Anschauung zu bringen, Personen/
Charaktere, Verhältnisse und Situationen nur im Dienste dieser
poetisch zu gestalten, so daß dann auch nur das Maaß der Klarheit
und Eindringlichkeit, mit welcher jene hervortritt und uns ergreift,
zum Maßstabe ihres Werthes gemacht werden darf (eine höhere Stei-
gerung dieser Richtung ist eben der Tendenzroman). Dies gilt vor-
züglich von den Geschichten Jeremias Gotthelfs und in anderer
Weise auch von den neueren französischen Romanen.
Dann aber kann die Erzählung vorwiegend auf die Darstellung
eines bestimmten Charakters, oder einer besonderen, den ganzen
Charakter und das innere Leben des Menschen bedingenden und be-
herrschenden Leidenschaft (in komischen Romanen einer besonderen
Manier oder Manie) gerichtet sein. Hier wird die Wahrheit, Ge-
nauigkeit und Lebendigkeit der psychologischen Entwickelung den Maß-
stab des Werthes hergeben. Ein ganz ausgezeichnetes Beispiel die-
ser Gattung ist Auerbach's Diethelm vom Buchenberg. Eben so tief
als wahr, so genau als lebendig gezeichnet, wird diese Gestalt gewiß
jedem Leser ein unauslöschliches Bild in der Seele zurücklassen. H
Wir erinnern uns nicht, selbst bei den besten Meistern psychologi-
scher Motivirung, Scott und Bulwer, Boz und Bell und Auerbach
selbst mit eingerechnet, jemals ein Gemälde einer eigentlich einzelnen
Handlung so genau und vollkommen vom Anfang der Beweggründe
bis zum Ende der Bestrafung durchgeführt zu finden, das so poin-
tirt und doch so natürlich, mit so starken Lichtern und so scharfen
Schatten doch so Llglatt in unsere Seele eindringt, das sie fortwäh-
rend spannt und befriedigt, das den Rechtssinn und das Mitleid
*) Gotthelfs Hagelhans int Blitzloch (im Uli), Grutenbauer (in Geld und
Geist) oder Barthli, anch Rank's Nachtwächter (im Florian) n. dergl. können
wohl neben dem alten Gottfried (in Erdmnthe) oder dem „Schloßbanern" von
Anerbach genannt werden, aber nicht neben dem Diethelm.
immer zugleich rege erhält. In gleicher Linie steht der historische
Roman mit seiner bestimmten Absicht, gewisse Zeiten, politische und
Culturepochen malerisch zu zeichnen.
Endlich kann die Erzählung theils in Verbindung mit, theils
im Unterschiede von den vorigen Elementen, vorzüglich auf die for-
mell künstlerische Gestaltung, auf Schürzung und Entwickelung des
Knotens, auf rythmische Ordnung der Situationen und Charaktere
gerichtet sein, eine Gattung, in welcher sich bei uns besonders Spind-
ler ausgezeichnet hat.
In dieser Mehrheit und Verschiedenheit der kritischen Maßstäbe
besitzen wir den Apparat, um selbst die größte Kunsthöhe des Ro-
mans zu ermessen, aber auch den niederen Anhöhen eine gerechte
Schätzung angedeihen zu lassen.
Betrachten wir hiernach die einzelnen Werke, so finden wir
I.
in Auerbachs Lehnhold eine Erzählung, deren höchster Werth darin
besteht, daß nicht blos sämmtliche aufgezeigte ästhetische Elemente,
sondern zugleich so gleichmäßig und harmonisch, darin vertreten sind,
daß es schwer sein würde, zu behaupten, ob es vorwiegend ein Ten-
denzroman, oder eine Characterschilderung oder eine Kunstnovelle im
engeren Sinne sein soll. Es ist nicht unsere Absicht, die dem Kri-
tiker selten vergönnte Freude, seine Freuden an einem Werke darzu-
legen, ganz durchzukosten, und damit Auerbachs Werken Anerkennung
zu verschaffen; sie ist laut und schweigend so allgemein, daß es deren
nicht bedarf. Vielmehr kam es nur darauf an, den literarhistorischen
und ästhetischen Gesichtspunkt zu entwickeln, aus welchem man seine
Schöpfung anzusehen hat. Zur Begründung unseres Urtheils aber,
haben wir Folgendes hervorzuheben. Der Grundgedanke, die Ten-
denz der Erzählung ist die zur Zeit der öffentlichen Discussion
unterworfene und würdige Frage der Majoratserbschaft. Wiewohl
in seiner Ansicht entschieden, ist der Verf. doch so leidenschafts-, man
kann sagen, parteilos, daß er die streitenden Rücksichten mit gleich
ungeschwächter Kraft hervortreten und damit die hellsten Lichter auf
die Frage und nicht einseitig auf seine Entscheidung fallen läßt.
Es war sowohl in dieser, die Mäßigung heischenden, als in anderer
künstlerischer Beziehung ein gar glücklicher Griff/ daß und wie der
Verf. uns in eine Versammlung führt, wo der Streitpunkt im all-
gemeinen Interesse erörtert, das Für und Wider mit gleichem Nach-
druck verfochten wird. Wir sehen hier die bei der Frage betheilig-
ten Hauptpersonen der Geschichte, sehen auch, wie sie auf das Ge-
müth und das Geschick eines Jeden auf eine so charakteristische Weise
eingreift; zugleich aber ist die That und Empfindung eines Jeden
so sehr von seinem eigenen individuellen Leben und Charakter be-
stimmt, daß eine innige Verschmelzung des Allgemeinen und Be-
sonderen hier eben so hervorleuchtet, wie sie sich durch die ganze
Erzählung hinzieht. So scharf und individuell sind die Charaktere
und Gemüthsrichtungen verschieden, die daraus folgende Lage ihres
Lebens, die Verhältnisse der Familie find so eigenthümlich, daß uns
ihre innere Entwickelung und ihre äußeren Schicksale zur innigsten
Theilnahme anregen, auch ohne jeden Hinblick auf das allgemeine
Problem, unter dessen Macht sie kämpfen und leiden. Endlich aber
ist der Gang der Ereignisse, der Reichthum, die Abwechselung und
Anordnung der Situationen, die auf steigende Theilnahme zielende
innere und äußere Entwickelung der Gemüths- und Lebenslagen so
künstlerisch vollendet, daß wir weder an den individuellen Reiz des
Inhaltes, noch an das Wohlthuende des Hintergrundes der Ge-
schichte, der kaum schöner und froher gedacht werden kann, als der
Hof eines reichbegüterten Bauern, zu erinnern brauchen, um über
das allseitig Gefällige, sittlich wie ästhetisch Befriedigende dieser Er-
zählung klar zu werden.
Auch von den folgenden drei Erzählungen dieses Bandes könnte
man behaupten, daß jedem ein bestimmter Grundgedanke zu eigen