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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 48.1921

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Michel, Wilhelm: Die Baukunst der nahen Zukunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.9123#0062

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DIE BAUKUNST DER NAHEN ZUKUNFT.

Man hat es als den wichtigsten und größten
Inhalt der Baugeschichte bezeichnet, daß
sie den ewigen Kampf zwischen der schaffenden
Raumphantasie und den zur Verfügung stehen-
den Stoffen darstellt. Das Formstreben eilt
voraus, der rechnende Verstand sieht sich in
der Welt der Stoffe um, die das Geträumte zur
Tat werden lassen. Die Welt der Formen und
die Welt der Stoffe üben tausendfache Wirkung
auf einander. Es ist ein dauernder Konflikt
und ein dauerndes Befruchten. Oft stehen sie
in heftiger Feindseligkeit gegen einander, oft
feiern sie Versöhnungen, die ewig denkwürdige
Gebilde erstehen lassen.

Ägypten entwickelt seine monumentale Bau-
kunst nicht nur auf Grund einer großen Phan-
tasie, sondern sehr wesentlich auf Grund seiner
Bindung an den Stein. Es besaß kein Holz.
Kalkstein, Sandstein, Syenit, Granit aber stan-
den in reichstem Maß überall zur Verfügung.
Das gibt der Form die Richtung, die besondere
Lebensstimmung. Form kommt ewig nur aus

dem Geist. Im Stoff aber liegen die hemmen-
den Kräfte und bestimmen den Kanal, in dem
das Formstreben sich ergießt. Ägypten denkt
seine Form von vornherein in Stein. Daher
kommt — nicht etwa ihre Größe und Gewalt,
denn die sind geistiger Natur; aber ihr Wuchten
und Lagern, ihre Strenge und Gedrungenheit.

Indiens Form denkt von Anfang an in Holz.
Denn Holz lieferten seine Wälder im Überfluß.
Und der Geist des Holzes bestimmt auf lange
Zeit hinaus auch seine Steinarchitektur, deren
besonderes Wesen sich nur erklären läßt, wenn
wir sie überall durchklungen fühlen von Erinne-
rungen an einen hochentwickelten Holzbaustil.

An diesen Konflikt, an dieses wechselseitige
Befruchten von vorauseilender Formphantasie
und der schweren, dinghaften Welt der Stoffe
muß man denken, will man einen Weg finden
durch die Wirrnis von Strebungen, die sich
heute wieder in der Baukunst bekriegen. Auch
heute steht eine kühn vordringende Phantasie
— ich meine damit keineswegs bloß die im
 
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