Die Baukunst der nahen Zukunft.
engern Sinn utopische Architektur — in tragi-
schem Gegensatz zur Welt der Stoffe. Dies
macht sich heute in äußerst hemmender Weise
geltend, denn sie wirft uns nicht bloß physische
Hemmungen entgegen, sondern sie beschwert
das Formen mit jenen wirtschaftstechnischen
Widerständen, die ernster sind als alle andern.
Im Grunde genommen ist heute alle Baukunst,
die nicht auf rohe Befriedigung des nackten
Bedürfens eingestellt ist, utopischer Art. Wir
stehen vor einem der interessantesten Fälle
jenes ewigen Konflikts. Es wäre sehr verkehrt,
zu sagen: Da der Stoff nicht „will", jagen wir
das Formstreben beiseite und stellen uns be-
wußt nur auf das Mögliche ein. Das hieße den
Konflikt fälschen, das hieße die Entwicklung
betrügen, verkürzen um eine Kraft, die ebenso
legitim aus der Zeit geboren ist wie der stoff-
liche Widerstand. Ebenso fehlerhaft freilich
wäre es, wenn die Phantasie den Kampf um die
Verkörperung aufgäbe und sich bewußt ins
Wolkenkukuksheim der fessellosen Entwürfe
flüchtete. Nein: der Kampf muß redlich aus-
getragen werden, mit aller Erbitterung, mit
Hin- und Her-Wogen der feindlichen Schlacht-
reihen. Das kühne Suchen ist da, unsre Armut
ist da. Dies sind die Stoffe, aus denen das
Bauwerk einer nahen Zukunft sich baut. Ver-
zicht ist in diesem Fall das Urböse und muß
sich früher oder später rächen. Wilhelm michel.
VON GEWANDMUSTERN UND KLEIDERORNAMENTEN.
Fließende Stoffe — schaffensfrohen Phanta-
sien, herrlichste Tummelplätze! Unermeß-
liches Gebiet dem Künstlergeist, sich auszugeben
in schmückendem Spiel mit launig umgrenzten
Flächen, zitternden Linien und schwingenden
Klängen, Wunderland der großen Göttin Liebe!
Unbegrenzte Möglichkeit, bald sich dem Wirk-
lichen nachahmend zu nähern, in melodisch
wiederholten Rhythmen Wunder des Seins zu
besingen, bald sich zu entfernen von dem, was
die große Isis zweckfroh gestaltet — und sich
über das Wirkliche setzend, zu träumen, von
dem, was sein könnte: Vom Erwünschten, vom
Ersehnten, vom Anderen über und außer uns !
Fließende, wallende, rieselnde, knisternde,
rauschende Stoffe — wer bebte nicht im Ge-
danken an Eure tausend herrlichen Aufgaben,
ihr die ihr berufen seid, dem Weibe immer neue
Reize zu verleihen: Begehren zu steigern durch
weises Verhüllen, durch Verschleiern und Ahnen-
lassen, durch keusches Überbauschen oder durch
aufreizendes Überspannen, durch Bemusterung
geschmeidiger Glieder mit Blütenkelchen, dem
Dufte der Jugend zu Gefäßen I
Verzierte, geschmückte Gewebe — wann
seid ihr entstanden? Ach, uralt seid ihr wie
die Menschheit selbst! Nur eins kann vielleicht
älter sein — die mit bunten Erden gemalte
Haut des Urmenschen!
Die Stoffornamentik ist eine der vielen ge-
heiligten Sprachen der Liebe. Wie reich ist
ihre Grammatik, wie ungeheuer ihr Sprach-
schatz, wie unerschöpflich sind ihre Ausdrucks-
formen. Es gibt weinende und kichernde Or-
namente, magisch bannende und abstoßende,
leicht duftige, die über ein Sehnlich-gewolltes
hinwegrieseln, wie Wettergespräche über bren-
nende Liebesglut, schwer elegische, die von
unter ihnen schlummernden tragischen Ge-
heimnissen raunen, es gibt giftige, die unser
ganzes Dasein mit Qualen und Schmerzen
versäuren können und heilsam erlösende, die
uns aufatmen machen und uns auf Glücksinseln
versetzen.
Wer zweifelt, der forsche in der Wirkens-
geschichte der Menschheit, der lausche mit den
Augen und sehe mit den Ohren, was Maja in
brauner, gelber, sahnenweißer und schwarzer
Haut überall raunt und spricht, lese, was ge-
schrieben steht von Rindenkleidern der Viel-
Inselleute, den verzierten Hirschledern der Rot-
häute, den wachsgemalten, vulkanisch murmeln-
den Sarong-Stoffen der Javanen, den mystisch
vergeisteten Seiden der Chinesen und dem, was
unsere zerrissene, zersprengte Kultur jetzt zei-
tigt — Welten werden ihm aufgehen, aus denen
sich ihm das Wesen alles Menschlichen offen-
bart, im guten wie im bösen Sinne. Unwider-
stehlich ist die Anziehungskraft der Ornamente,
mögen sie sich noch so abstrakt, so kristallinisch
und chemisch geben. Daß sie geheimstes For-
mungs- und Gesellungsgesetz erfüllen und somit
göttlich sind und daß sie zugleich von Menschen-
hand und Menschengeist gemacht, gedacht, ge-
träumt und gefühlt sind — das bringt uns im-
mer wieder in ihren Bann, in den aufreizenden
oder beruhigenden Zauber ihrer Wiederholun-
gen. Unentrinnbar sind wir ihnen verfallen mit
allen Aufnahmeorganen unserer Seele, sie sind
uns notwendige Nahrung, Lebensspender, Er-
zieher und Lehrer, sie schließen uns zu Ge-
meinschaften zusammen und trösten uns als
Musik des Raumes, die uns Einsamkeit und
Leere erfüllt und uns in den Lobgesang auf
die unerschöpflich wieder dasselbe erzeugende
Natur einstimmen läßt. graf von Hardenberg.
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engern Sinn utopische Architektur — in tragi-
schem Gegensatz zur Welt der Stoffe. Dies
macht sich heute in äußerst hemmender Weise
geltend, denn sie wirft uns nicht bloß physische
Hemmungen entgegen, sondern sie beschwert
das Formen mit jenen wirtschaftstechnischen
Widerständen, die ernster sind als alle andern.
Im Grunde genommen ist heute alle Baukunst,
die nicht auf rohe Befriedigung des nackten
Bedürfens eingestellt ist, utopischer Art. Wir
stehen vor einem der interessantesten Fälle
jenes ewigen Konflikts. Es wäre sehr verkehrt,
zu sagen: Da der Stoff nicht „will", jagen wir
das Formstreben beiseite und stellen uns be-
wußt nur auf das Mögliche ein. Das hieße den
Konflikt fälschen, das hieße die Entwicklung
betrügen, verkürzen um eine Kraft, die ebenso
legitim aus der Zeit geboren ist wie der stoff-
liche Widerstand. Ebenso fehlerhaft freilich
wäre es, wenn die Phantasie den Kampf um die
Verkörperung aufgäbe und sich bewußt ins
Wolkenkukuksheim der fessellosen Entwürfe
flüchtete. Nein: der Kampf muß redlich aus-
getragen werden, mit aller Erbitterung, mit
Hin- und Her-Wogen der feindlichen Schlacht-
reihen. Das kühne Suchen ist da, unsre Armut
ist da. Dies sind die Stoffe, aus denen das
Bauwerk einer nahen Zukunft sich baut. Ver-
zicht ist in diesem Fall das Urböse und muß
sich früher oder später rächen. Wilhelm michel.
VON GEWANDMUSTERN UND KLEIDERORNAMENTEN.
Fließende Stoffe — schaffensfrohen Phanta-
sien, herrlichste Tummelplätze! Unermeß-
liches Gebiet dem Künstlergeist, sich auszugeben
in schmückendem Spiel mit launig umgrenzten
Flächen, zitternden Linien und schwingenden
Klängen, Wunderland der großen Göttin Liebe!
Unbegrenzte Möglichkeit, bald sich dem Wirk-
lichen nachahmend zu nähern, in melodisch
wiederholten Rhythmen Wunder des Seins zu
besingen, bald sich zu entfernen von dem, was
die große Isis zweckfroh gestaltet — und sich
über das Wirkliche setzend, zu träumen, von
dem, was sein könnte: Vom Erwünschten, vom
Ersehnten, vom Anderen über und außer uns !
Fließende, wallende, rieselnde, knisternde,
rauschende Stoffe — wer bebte nicht im Ge-
danken an Eure tausend herrlichen Aufgaben,
ihr die ihr berufen seid, dem Weibe immer neue
Reize zu verleihen: Begehren zu steigern durch
weises Verhüllen, durch Verschleiern und Ahnen-
lassen, durch keusches Überbauschen oder durch
aufreizendes Überspannen, durch Bemusterung
geschmeidiger Glieder mit Blütenkelchen, dem
Dufte der Jugend zu Gefäßen I
Verzierte, geschmückte Gewebe — wann
seid ihr entstanden? Ach, uralt seid ihr wie
die Menschheit selbst! Nur eins kann vielleicht
älter sein — die mit bunten Erden gemalte
Haut des Urmenschen!
Die Stoffornamentik ist eine der vielen ge-
heiligten Sprachen der Liebe. Wie reich ist
ihre Grammatik, wie ungeheuer ihr Sprach-
schatz, wie unerschöpflich sind ihre Ausdrucks-
formen. Es gibt weinende und kichernde Or-
namente, magisch bannende und abstoßende,
leicht duftige, die über ein Sehnlich-gewolltes
hinwegrieseln, wie Wettergespräche über bren-
nende Liebesglut, schwer elegische, die von
unter ihnen schlummernden tragischen Ge-
heimnissen raunen, es gibt giftige, die unser
ganzes Dasein mit Qualen und Schmerzen
versäuren können und heilsam erlösende, die
uns aufatmen machen und uns auf Glücksinseln
versetzen.
Wer zweifelt, der forsche in der Wirkens-
geschichte der Menschheit, der lausche mit den
Augen und sehe mit den Ohren, was Maja in
brauner, gelber, sahnenweißer und schwarzer
Haut überall raunt und spricht, lese, was ge-
schrieben steht von Rindenkleidern der Viel-
Inselleute, den verzierten Hirschledern der Rot-
häute, den wachsgemalten, vulkanisch murmeln-
den Sarong-Stoffen der Javanen, den mystisch
vergeisteten Seiden der Chinesen und dem, was
unsere zerrissene, zersprengte Kultur jetzt zei-
tigt — Welten werden ihm aufgehen, aus denen
sich ihm das Wesen alles Menschlichen offen-
bart, im guten wie im bösen Sinne. Unwider-
stehlich ist die Anziehungskraft der Ornamente,
mögen sie sich noch so abstrakt, so kristallinisch
und chemisch geben. Daß sie geheimstes For-
mungs- und Gesellungsgesetz erfüllen und somit
göttlich sind und daß sie zugleich von Menschen-
hand und Menschengeist gemacht, gedacht, ge-
träumt und gefühlt sind — das bringt uns im-
mer wieder in ihren Bann, in den aufreizenden
oder beruhigenden Zauber ihrer Wiederholun-
gen. Unentrinnbar sind wir ihnen verfallen mit
allen Aufnahmeorganen unserer Seele, sie sind
uns notwendige Nahrung, Lebensspender, Er-
zieher und Lehrer, sie schließen uns zu Ge-
meinschaften zusammen und trösten uns als
Musik des Raumes, die uns Einsamkeit und
Leere erfüllt und uns in den Lobgesang auf
die unerschöpflich wieder dasselbe erzeugende
Natur einstimmen läßt. graf von Hardenberg.
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