LUCIAN BERNHARD-BERLIN.
»SCHRANKE DER DAME«
VOM GEHEIMNISVOLLEN »ES«.
Der wird nicht weiter kommen, der von
Anfang an weiß, wohin er geht." Dieses
Wort Napoleons bezieht sich auf das Handeln.
Und in gleichem Sinn hat Nietzsche den Aus-
spruch getan: „ Die Erkenntnis tötet das Handeln,
zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion."
Was hier vom Handelnden gesagt wird, trifft
erst recht zu auf den Künstler. Die Neigung,
sein Werk zu interpretieren ehe es geschaffen
ist, kennzeichnet den Dilettanten. Beim beru-
fenen Künstler dagegen besteht sehr oft der
Wille, von einem Werk nicht eher zu sprechen,
ehe es vollbracht ist, aus der Befürchtung, daß
sonst seine Vollendung nicht gelinge. Diese
Besorgnis beruhtdurchaus nicht auf Aberglauben,
wie der Schaffende zuweilen selbst annimmt,
sondern auf dem instinktiven Gefühl, daß etwas
in ihm arbeitet, das notleidet, wenn es zu früh
ins Licht des Bewußtseins gerückt wird.
Nicht ich dichte, male oder bilde, sondern
e s dichtet, malt oder bildet in mir. Jenes ge-
heimnisvolleEseinerunbewußtenschöpferischen
Kraft. Das Bewußtsein ist berufen, das Sein
zu beleuchten, aber vor dem Werden gebührt
ihm heilige Scheu. Wer sich beim Schaffen allzu-
bewußt erkennend verhält, der gleicht einem
Menschen, der das Erdreich aufwühlt, um zu
sehen, ob der eingesenkte Samen keimt, und
der eben dadurch dessen Wachstum stört oder
vernichtet. Wohl weiß ich um jenes Es in mir,
ahne sein Wirken und Wollen. Aber dieses
Wissen bezieht sich auf eine Erkenntnis, die
als Reflex in mein Ichbewußtsein übergetreten
ist und mir ermöglicht, gewissermaßen als ein
Gärtner, fernzuhalten was dem Keime schadet
und ihm zuzuführen, was ihm nützt. Aber nicht
kenne ich das letzte Ziel; denn jedes zur Reife
gelangende Kunstwerk wächst über sich selbst
hinaus. Das vermag es nur, weil nicht das
reflektierende Ich es schafft, sondern weil das
geheimnisvolle Werden in mir, dieses unbewußte
Es, seine Entstehung und Gestaltung bewirkt.
Hebbel sagte mit Recht: „Cogito, ergo sum,
bin ich nicht viel mehr in der Gewalt des in mir
Denkenden, als dieses in meiner Gewalt ist?"
64
»SCHRANKE DER DAME«
VOM GEHEIMNISVOLLEN »ES«.
Der wird nicht weiter kommen, der von
Anfang an weiß, wohin er geht." Dieses
Wort Napoleons bezieht sich auf das Handeln.
Und in gleichem Sinn hat Nietzsche den Aus-
spruch getan: „ Die Erkenntnis tötet das Handeln,
zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion."
Was hier vom Handelnden gesagt wird, trifft
erst recht zu auf den Künstler. Die Neigung,
sein Werk zu interpretieren ehe es geschaffen
ist, kennzeichnet den Dilettanten. Beim beru-
fenen Künstler dagegen besteht sehr oft der
Wille, von einem Werk nicht eher zu sprechen,
ehe es vollbracht ist, aus der Befürchtung, daß
sonst seine Vollendung nicht gelinge. Diese
Besorgnis beruhtdurchaus nicht auf Aberglauben,
wie der Schaffende zuweilen selbst annimmt,
sondern auf dem instinktiven Gefühl, daß etwas
in ihm arbeitet, das notleidet, wenn es zu früh
ins Licht des Bewußtseins gerückt wird.
Nicht ich dichte, male oder bilde, sondern
e s dichtet, malt oder bildet in mir. Jenes ge-
heimnisvolleEseinerunbewußtenschöpferischen
Kraft. Das Bewußtsein ist berufen, das Sein
zu beleuchten, aber vor dem Werden gebührt
ihm heilige Scheu. Wer sich beim Schaffen allzu-
bewußt erkennend verhält, der gleicht einem
Menschen, der das Erdreich aufwühlt, um zu
sehen, ob der eingesenkte Samen keimt, und
der eben dadurch dessen Wachstum stört oder
vernichtet. Wohl weiß ich um jenes Es in mir,
ahne sein Wirken und Wollen. Aber dieses
Wissen bezieht sich auf eine Erkenntnis, die
als Reflex in mein Ichbewußtsein übergetreten
ist und mir ermöglicht, gewissermaßen als ein
Gärtner, fernzuhalten was dem Keime schadet
und ihm zuzuführen, was ihm nützt. Aber nicht
kenne ich das letzte Ziel; denn jedes zur Reife
gelangende Kunstwerk wächst über sich selbst
hinaus. Das vermag es nur, weil nicht das
reflektierende Ich es schafft, sondern weil das
geheimnisvolle Werden in mir, dieses unbewußte
Es, seine Entstehung und Gestaltung bewirkt.
Hebbel sagte mit Recht: „Cogito, ergo sum,
bin ich nicht viel mehr in der Gewalt des in mir
Denkenden, als dieses in meiner Gewalt ist?"
64