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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 48.1921

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Heckel, Karl: Vom geheimnisvollen "Es"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9123#0079

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Vom geheimnisvollen »Es

Die rationalistische Gesinnung der letzten
Jahrzehnte trägt, nach Keyserling, schuld, daß
das deutsche Volk bei sich gleichbleibender
Naturanlage immer unschöpferischer, immer
tatsachenbefangener, immer ohnmächtiger ge-
worden ist. „Immer mehr ist es deutsche Art
geworden, mit der gegebenen Erscheinungswelt
als letzter Instanz zu rechnen, innerhalb dieser
zu induzieren, zu deduzieren, zu organisieren,
aber nie unmittelbar Neues, Originales hervor-
zubringen, sodaß schließlich der Zusammenhang
mit dem tiefsten schöpferischen Grund beim
deutschen Volk von heute in einem seit Mensch-
heitsgedenken unerhörten Grad gelockert er-
scheint." — In der Kunst dürfen wir vielleicht
den Expressionismus als eine Reaktion gegen
die von außen her bestimmte künstlerische
Tätigkeit betrachten, mochte sie sich Naturalis-
mus oder Impressionismus nennen. In diesem
Sinne bedeutet er das Es und dessen unbewußtes
Walten gegenüber dem Ich und dessen bewußtem
Gestalten. Freilich, wo der Expressionismus
sich in bloßer Willkür ergeht, da werden wir
auch bei ihm nur einem subjektiven Sprießen
und Treiben, nur Wucherung, nicht Wachstum be-
gegnen. Aber wenn in ihm das „Es "sich zeugungs-
fähig erweist, dann vermag das organische
Kunstwerk zu erstehen, das aus dem Innenleben
wächst und sich von Sinneseindrücken nährt.

Im „es" der deutschen Sprache (den
romanischen fehlt dasselbe bekanntlich) drückt
sich fast immer etwas nur andeutbares, geister-
haftes oder geheimes, fast dämonisches aus,

also daß es sich ganz besonders dafür eignet,
jenem mysteriösen Vorgang des schöpferischen
Werdens in der Natur und in der Kunst zum
Ausdruck zu verhelfen. Je ehrfürchtiger wir
uns zu jenem Es verhalten, je näher gelangen
wir zu der Ursprünglichkeit, dieinjeder Schöpfer-
kraft lebt, je rationalistischer wir das Werden
zu begreifen suchen, je mehr büßt dieses an
Originalität ein.

Heute ahnen wir wohl, wie sehr wir gegen
unsere Entwicklung fehlten, als wir uns mit
Übereifer in den Dienst der äußeren Welt
stellten, und darüber das Innenleben und den
Geist vernachlässigten. Nicht dem Räderwerk
bewußter Kausalität, sondern dem Mysterium
intelligibler Freiheit der schöpferischen Ent-
wicklung kommt die letzte Entscheidung zu.

Vielleicht ist die Kunst heute mehr denn je dazu
berufen, die Umkehr zu vermitteln, die uns not
tut als Rückkehr zum Lebensquell unseres
Wesens, dorthin, wo kein rechnerisches Ich
willkürlich zählt und wägt, sondern nur das
geheimnisvolle Es in seiner Ursprünglichkeit

waltet und schafft........... karl heckel.

Ä

Der große Geist unterscheidet sich haupt-
sächlich darin vom kleinen, daß sein Werk
selbständig ist, daß er ohne Rücksicht auf das,
was andere getan haben, mit seiner Bestim-
mung von Ewigkeit her zu koexistieren scheint,
da der kleine Kopf durch übel angebrachte
Nachahmung seine Eingeschränktheit noch ein-
mal manifestiert............... goethe.

LUCIAN BERNHARD. «SOFA IM BOUDOIR«

XXIV. April-Mai 1921. 7
 
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