EMIL ORL1K.
»AQUARELL«
TALENT UND GENIE.
VON UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. EMIL UTITZ, ROSTOCK.
Tn meinen eingehenden Studien über das künst-
J lerische Schaffen (veröffentlicht im zweiten
Bande der,, Grundlegung der allgemeinenKunst-
wissenschaft" 1920) mußte ich mich auch mit
der Frage beschäftigen, in welchen Beziehungen
Talent und Genie zueinander stehen. Seit dem
eindrucksvollen Vortrage, den Franz Bren-
tano 1892 über das Genie hielt und im gleichen
Jahre in Buchform herausgab, hat sich die
Forschung immer mehr der Ansicht zugeneigt,
Talent und Genie nicht als gattungsverschieden
zu betrachten, sondern nur einen Gradunter-
schied anzunehmen. So meint der berühmte
Leipziger Philosoph Volkelt: „Nicht der Art,
sondern nur dem Grade nach unterscheidet sich
das Schaffen des genialen Künstlers von dem
des Talentes. Es handelt sich dabei immer nur
um Steigerungen solcher Seiten, die auch dem
gewöhnlichen künstlerischen Schaffen wesent-
lich sind." Die typischen Anschauungen der
Gegenwart spricht wohl am klarsten Joseph
Klemens Kreibig aus, der gleichfalls Talent
und Genie nur für graduell, nicht für essentiell
unterschieden hält. Den Gradunterschied er-
läutert er dahin, „daß den Talenten bloß neue
Verbindungen der Elemente zu Teilen des
Kunstwerkes zu gelingen pflegen, während den
Produkten des Genies gerade die Neuheit des
Ganzen charakteristisch ist, ein Umstand, der
auf Verschiedenheit der Gestaltungskraft der
Phantasie beider zurückweist." Alstrennendes
Kennzeichen soll ferner anzusehen sein, daß
beim Genie die sogenannten unbewußten Zwi-
schenprozesse des Schaffens eine vergleichs-
weise wichtigere Rolle spielen, als beim Talent,
welches nach bewährten zeitgemäßen Kunst-
regeln mit klarer Beurteilung der Zwecke und
Mittel auf die Erzielung des ästhetischen Er-
folges hinarbeitet. „Beim Genie tritt das Ange-
borene, die Anlage, mehr zutage als beim Ta-
»AQUARELL«
TALENT UND GENIE.
VON UNIVERSITÄTSPROFESSOR DR. EMIL UTITZ, ROSTOCK.
Tn meinen eingehenden Studien über das künst-
J lerische Schaffen (veröffentlicht im zweiten
Bande der,, Grundlegung der allgemeinenKunst-
wissenschaft" 1920) mußte ich mich auch mit
der Frage beschäftigen, in welchen Beziehungen
Talent und Genie zueinander stehen. Seit dem
eindrucksvollen Vortrage, den Franz Bren-
tano 1892 über das Genie hielt und im gleichen
Jahre in Buchform herausgab, hat sich die
Forschung immer mehr der Ansicht zugeneigt,
Talent und Genie nicht als gattungsverschieden
zu betrachten, sondern nur einen Gradunter-
schied anzunehmen. So meint der berühmte
Leipziger Philosoph Volkelt: „Nicht der Art,
sondern nur dem Grade nach unterscheidet sich
das Schaffen des genialen Künstlers von dem
des Talentes. Es handelt sich dabei immer nur
um Steigerungen solcher Seiten, die auch dem
gewöhnlichen künstlerischen Schaffen wesent-
lich sind." Die typischen Anschauungen der
Gegenwart spricht wohl am klarsten Joseph
Klemens Kreibig aus, der gleichfalls Talent
und Genie nur für graduell, nicht für essentiell
unterschieden hält. Den Gradunterschied er-
läutert er dahin, „daß den Talenten bloß neue
Verbindungen der Elemente zu Teilen des
Kunstwerkes zu gelingen pflegen, während den
Produkten des Genies gerade die Neuheit des
Ganzen charakteristisch ist, ein Umstand, der
auf Verschiedenheit der Gestaltungskraft der
Phantasie beider zurückweist." Alstrennendes
Kennzeichen soll ferner anzusehen sein, daß
beim Genie die sogenannten unbewußten Zwi-
schenprozesse des Schaffens eine vergleichs-
weise wichtigere Rolle spielen, als beim Talent,
welches nach bewährten zeitgemäßen Kunst-
regeln mit klarer Beurteilung der Zwecke und
Mittel auf die Erzielung des ästhetischen Er-
folges hinarbeitet. „Beim Genie tritt das Ange-
borene, die Anlage, mehr zutage als beim Ta-