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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 48.1921

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Utitz, Emil: Talent und Genie
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https://doi.org/10.11588/diglit.9123#0148

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Talent und Genie.

lent, das zum Erwerb seiner Tüchtigkeit eines
längeren Übens bedarf."

Zwei Bedeutungen schillern da vielseitig
durcheinander: eine quantitative und eine qua-
litative. Genie liegt der ersten Bedeutung zu-
folge in gerader Linie des Talents, nur um ein
Stück weiter. Bei direktem Aufstieg in der Be-
gabungsrichtung gelangen wir vom Normalmen-
schen über das Talent zum Genie. „Genie" ist
somit ein Wertmaß. Ich muß die Bezeichnung
rechtfertigen durch Aufweisen der überragenden
Leistung. Weil Goethe Werke von höherer
Bedeutung schrieb als Lessing, ist jener das
Genie, dieser das Talent. Man hat aber —
ohne klare Bewußtheit der prinzipiellen Ver-
schiedenheit des Beginnens — in diese erste
Bedeutung auch qualitative Unterschiede ein-
geschoben, die sich am besten verstehen lassen
als Begabungs- oder Anlagedifferenzen des
„genialen" und „talentierten" Menschen. Dies
meint man mit der Feststellung, letzterer ar-
beite gemächlich, dieser sprunghaft und mit
anderen ähnlichen Feststellungen. Das zeigt
aber ganz deutlich, daß Talent und Genie nicht
einfach in der Verlängerung einer Geraden liegen

können. Im Gegenteil: reines Talent und reines
Genie schließen einander aus und vertragen
sich bloß in Mischformen. Diese Artverschie-
denheit bedingt jedoch durchaus keine unüber-
brückbare Kluft. Zwischen einer Farben- und
Tonqualität bestehen keine Übergänge. Man
hat deswegen mit Recht für die Gattungsver-
schiedenheit der Sinne das Merkmal in An-
spruch genommen, daß eine Überführung der
einen Erscheinung in die andere sachlich un-
möglich ist. Daß in diesem Betracht von einer
Verschiedenheit des Talents zum Genie nicht
die Rede sein kann, wies die moderne Psycho-
logie mit aller Entschiedenheit nach durch Nam-
haftmachen all der Zwischenstufen, die allmäh-
lich von der einen Gegebenheit zur anderen
leiten. Denken wir aber an die Qualitäten einer
Sinnesreihe! etwa an das reine Rot und das
reine Blau. Sie schließen einander aus: das
Urrot wäre durch einen Stich Blau in seinem
Charakter gefährdet; aber ein Übergang ist
möglich durch die Violettöne. Und die Wirk-
lichkeit spielt innerhalb dieser Skala mit An-
näherungen an die Extreme, wobei ich die an-
deren Determinanten — wie z. B. Helligkeit —
 
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