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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 48.1921

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Michel, Wilhelm: Über Zeit, Kunst und Paul Thesing
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https://doi.org/10.11588/diglit.9123#0285

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PAUL THESING—DARMSTADT.

»HAFEN VON ANDRAITX«

ÜBER ZEIT, KUNST UND PAUL THESING.

Unvermeidlich tut sich bei Betrachtung jedes
einzelnen Malers die ganze Problematik
der heutigen Kunstlage auf. Gespannt und ge-
fährdet ist der Zusammenhang, in dem alles
vereinzelte Bemühen erscheint. Diese Stö-
rungen sind oft beschrieben worden. Es ist
kaum nötig, sie noch einmal zu beschreiben.
Nur das Eine: sie bestehen in einem durch-
gehenden Versagen jener inneren geistigen Welt-
schöpfung, die der Mensch von jeher vollbringen
mußte, damit Welt und in ihr der Mensch und
seine Tat überhaupt möglich seien. Vorsich-
tiger und richtiger ist es vielleicht, zu sagen:
So sehen wir jedenfalls die vorhandene Störung
an. Ob wir damit ihr wirkliches Wesen sehen
oder ob wir damit mehr gewissen Depressions-
gefühlen Ausdruck geben, die uns befallen haben
und die eine allgemeine Gemütserkrankung der

Zeit darstellen: das steht dahin. Ich neige zu der
letzterenAnsicht. Freilich wird schädliche Selbst-
kontrolle nur frei, wo eine Störung im Grunde
schon vorliegt. Und daß unsere Geisteslage be-
friedigend sei, wird im Ernste heute niemand be-
haupten können. Aber Selbstkontrolle, einmal
erwachsen, verschlimmert rückwirkend das Übel,
dem sie entsprang, indem sie die Wege zur Heilung
zu verbauen strebt. Die Wege zur Heilung
dürften für den erkrankten Zeitgeist keine an-
deren sein, wie für den an Selbstschau erkrank-
ten Einzelmenschen: Richtung auf das Objekt.
Der Mensch ist zum Handeln, nicht zum Spe-
kulieren geboren. Das Denken hat die Tendenz,
ihn am Ende seiner Freiheit und schließlich gar
seines Lebens zu berauben. Handeln, wie es
aus Freiheit stammt, macht ihn frei. Seit we-
nigen Jahren erst zerquälen wir uns, gerade in

XXIV. September 1921. 1
 
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