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Dohme, Robert
Kunst und Künstler des Mittelalters und der Neuzeit: Biographien u. Charakteristiken (4,1): Kunst und Künstler der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts — Leipzig, 1886

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Luecke, Hermann: Antonio Canova: geboren zu Possagno den 1. Nov. 1757, gest. 12. Oktober 1882 in Venedig
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https://doi.org/10.11588/diglit.36323#0065
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SEIN KUNSTCHARAKTER.

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zur Empfindfamkeit, die während eines grofsen Theiles des 18. Jahrhunderts
in den Kreifen der Gebildeten herrfchend war, fand in Canova's Gehalten viel-
fach eine vorzügliche Befriedigung und vielleicht liegt etwas Bezeichnendes
darin, dafs er bei den Engländern, bei denen lieh diefe empfmdfame Stimmung
feit den Tagen Richardfons in manchen Kreifen ziemlich lange erhielt, einer
befonders grofsen Verehrung genofs. Zahlreiche Werke Canova's und gerade
viele feiner gepriefenflen gelangten in den Belitz der englifchen Ariftokratie,
und ein Engländer, der Bildhauer Gibfon, war fein treuefter Schüler.
Mit diefer Emphndfamkeit bildete das Streben nach linnlichem Liebreiz,
nach pikanter Belebung und zugleich nach Eleganz der Formen eine Mifchung,
die recht eigentlich das Element war, in welchem lieh Canova's Kunft bewegte.
Die pikante Behandlung des Nackten, die Betonung der finnlichen Wirkung war
in den für ihn am meiften bezeichnenden Werken ein Anklang an den Cha-
rakter der Barockzeit, die B Eleganz« und BNobleffe« der Formen war an diefen
Werken das Klaflifche, der empfmdfame Zug das Moderne. Befonders gilt das
von feinen weiblichen Figuren; die weiche Politur der Fleifchtheile, die Be-
handlung der Epidermis erinnert an die Manier der Barockkunft, während im
Gegenfatz zu dem fchwülftigen Charakter der letzteren die fchlankere und feinere
Bildung der Formen auf antike Mufter hinweilt; in der Haltung der Figuren und
namentlich in dem lächelnden Ausdruck der Köpfe kam das Sentimentale zum
Vorfchein, das lieh fo häufig ins Affektirte verirrte.
Die Art der Formenbehandlung hatCanova lieh felbft vielleicht als das höchfte
künftlerifche Verdient! angerechnet. Bemerkenswerth if! in diefer Beziehung,
was er an Quatremere über die Parthenonfkulpturen fchrieb: B . . sono una vera
carne, cioe la bella natura, come sono le altre esimie sculture antiche . .
Devo confessarvi, che in aver veduto queste belle cose, il mio amor proprio
e stato solleticato, perche sempre sono stato di sentimento, che li gran maestri
avessero dovuto operar in questo modo, e non altrimente . . . Basta questo
giudizio, per determinar una volta efhcacemente gli scultori a rinunziare ad
ogni rigiditä, attenendosi piutosto al bello e morbido impasto naturale«. Im
Streben nach diefer Morbidezza verfiel Canova nicht feiten in jene übertriebene
Weichheit der Behandlung, die man an den Barockfkulpturen als die BWolluft
der Oberfläche« zu rühmen pflegte. Aber auch da, wo dies nicht der Fall
war, — in den anmuthigften und gelungenften feiner jugendlichen Gehalten —
blieb er bei einer gewiffen Rundlichkeit der Formen, in welcher die feinen
Gegenfätze des Weichen und Feiten im Charakter des Fleifches und der Mus-
keln, offenbar einer Vorftellung von höchfter Zartheit zu Liebe, nicht genügend
betont find. Von dem, was fein Schönheitsbegriff Conventionelles hatte, macht
lieh ein Zug auch hierin bemerklich.
Intereffant ift uns Canova haüptfächlich vom gefchichtlichen Gefichts-
punkt, in feiner Mittelftellung zwifchen der Barockzeit und der neuklaffifchen
Epoche, zu deren Begründern er gehörte. Er hat ein Ideal von Schönheit und
Anmuth, das feiner Zeit vorfchwebte, fehr vollkommen zum Ausdruck gebracht,
Darin lag die grofse Wirkung, die er auf feine Zeitgenoffen ausübte. Aber diefes
Ideal hatte etwas Unwahres an fich, etwas Widerfpruchsvolles fchon infofern, als
 
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