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EIGENART DES CINQUECENTO
Spiel mit seiner Eroberung der Wirklichkeit. Auf dem Cinquecento dagegen lastete die Auto-
rität Michelangelos und von ihm indirekt beeinflußt, die heiß verfochtene Theorie vom Vorrang
der Plastik über die Malerei. Das Quattrocento krankt nicht an Theorien, sondern setzte seine Ent-
wicklung systematisch fort; der Erweiterung und Vertiefung der Aufgaben entsprach auch die
örtliche Ausdehnung. Wohl hatte Florenz die Führung, aber man erinnere sich auch der grund-
legenden und umfassenden Bedeutung der „Umbrotoskaner“ und der ,,Eigenart“ Sienas und
Umbriens. Das Cinquecento ist dagegen durch eine strenge und gewaltsame Einseitigkeit der
Problemstellung und eine Einschränkung des Schauplatzes gekennzeichnet. Alle führenden
Meister konzentrieren sich auf die zwei ersten Jahrzehnte; einer von ihnen herrscht noch als
Maler bis zur Jahrhundertmitte, als Bildhauer und Baumeister sogar noch länger: Michelangelo.
Rom hat die künstlerische Hegemonie an sich gerissen; was Päpste und Kardinäle schon im
15. Jahrhundert mit allen Mitteln erstrebt hatten, die besten Kräfte nach Rom zu ziehen und ihnen
ganz große Aufgaben zu stellen, war im 16. Jahrhundert erreicht. Dieser Mittelpunkt einer vorwie-
gend humanistischen und künstlerischen Kultur entwickelte sich unter Paul III. und seinen Nach-
folgern zum Mittelpunkt des neu gefestigten Katholizismus; die allseitige Bildung, die Rom zu
bieten hatte, ward Rückhalt und Werbemittel zugleich. Florenz, das sich alle toskanischen Städte
künstlerisch unterworfen hatte, mußte seinerseits Rom den Tribut der Unabhängigkeit zahlen
und der Papstresidenz seine besten Kräfte zur Verfügung stellen; immerhin verblieb der Trost,
als Residenz der toskanischen Großherzöge den Rang unmittelbar nach ihr einzunehmen. In
beiden früheren Jahrhunderten vermochte die ganze Entwicklung zu fesseln; im Cinquecento
liegt ein ungeheuerer Nachdruck auf den beiden ersten Jahrzehnten. Dann tritt eine Art Still-
stand ein (Blütezeit des Manierismus), und erst die zweite Hälfte vermag dem, der entwicklungs-
geschichtlich denkt, Bedeutendes zu sagen; aber wieviel langsamer geht trotzdem der Pulsschlag
als früher! Der Forscher sieht sich veranlaßt, einer Überschätzung jenes ersten Drittels vorzu-
beugen, indem er das Natürliche und Gesetzmäßige seines Werdens und Vergehens aufdeckt;
er wird die zwei anderen Drittel vor Unterschätzung beschützen müssen, indem er ihre entwick-
lungsgeschichtliche Notwendigkeit und die in ihnen enthaltenen Keime des Neuen nachweist.
Im Tre- und Quattrocento liegt der Schwerpunkt auf dem Werden, dem Ringen nach dem Ziel,
im Cinquecento dagegen auf dem Erworbenen, Bleibenden, auf dem festen, reichen geistigen
und künstlerischen Besitz. Die Ziele des Quattrocento lauteten praktisch: Perspektive, Anato-
mie, verfeinerte Farbe. Das Cinquecento formuliert seine Forderungen ganz abstrakt und theo-
retisch: Invenzione, decoro, grazia, oder nach den sprachlichen Postulaten Bembos: gravitä
und piacevolezza. Im Tre- und Quattrocento lernten die jungen Künstler in den Werkstätten
älterer Meister die Grundlagen zu ihrer künftigen Tätigkeit. Im Cinquecento wurden die Aka-
demien, die hohen Schulen der Kunst, gegründet. Diese war damit dem Handwerkerstand endgültig
enthoben und mit höherer Weihe gestempelt; die Theorie hatte an Stelle der handwerklichen
Praxis die Führung übernommen. Voran ging die mediceische Akademie der zeichnenden Künste
(Academia del disegno), 1561 gegründet, am 1. I. 1562 eröffnet. Ihr folgten die Academia del
disegno in Perugia (1573) und die Academia di S. Luca in Rom (1577, Satzungen 1595).
Im Cinquecento fußen Theorie und Praxis wie bisher auf dem plastischen Körperideal.
Allein es ist im Grunde doch ein ganz anderes geworden, und auch seine Beziehungen zur Um-
gebung und seine farbigen Ausdruckswerte haben sich geändert. Man will nicht mehr die vorüber-
gehende, ortsverändernde Bewegung, sondern die in sich beruhende, nur vom Körper selbst ge-
nährte. Das Ausdrucksmittel für dieses Ideal bildet die sog. Figura serpentinata, d. h. die die
Bewegung des S versinnbildlichende Gestalt, bei der aber alle Teile genau gegeneinander ab-
EIGENART DES CINQUECENTO
Spiel mit seiner Eroberung der Wirklichkeit. Auf dem Cinquecento dagegen lastete die Auto-
rität Michelangelos und von ihm indirekt beeinflußt, die heiß verfochtene Theorie vom Vorrang
der Plastik über die Malerei. Das Quattrocento krankt nicht an Theorien, sondern setzte seine Ent-
wicklung systematisch fort; der Erweiterung und Vertiefung der Aufgaben entsprach auch die
örtliche Ausdehnung. Wohl hatte Florenz die Führung, aber man erinnere sich auch der grund-
legenden und umfassenden Bedeutung der „Umbrotoskaner“ und der ,,Eigenart“ Sienas und
Umbriens. Das Cinquecento ist dagegen durch eine strenge und gewaltsame Einseitigkeit der
Problemstellung und eine Einschränkung des Schauplatzes gekennzeichnet. Alle führenden
Meister konzentrieren sich auf die zwei ersten Jahrzehnte; einer von ihnen herrscht noch als
Maler bis zur Jahrhundertmitte, als Bildhauer und Baumeister sogar noch länger: Michelangelo.
Rom hat die künstlerische Hegemonie an sich gerissen; was Päpste und Kardinäle schon im
15. Jahrhundert mit allen Mitteln erstrebt hatten, die besten Kräfte nach Rom zu ziehen und ihnen
ganz große Aufgaben zu stellen, war im 16. Jahrhundert erreicht. Dieser Mittelpunkt einer vorwie-
gend humanistischen und künstlerischen Kultur entwickelte sich unter Paul III. und seinen Nach-
folgern zum Mittelpunkt des neu gefestigten Katholizismus; die allseitige Bildung, die Rom zu
bieten hatte, ward Rückhalt und Werbemittel zugleich. Florenz, das sich alle toskanischen Städte
künstlerisch unterworfen hatte, mußte seinerseits Rom den Tribut der Unabhängigkeit zahlen
und der Papstresidenz seine besten Kräfte zur Verfügung stellen; immerhin verblieb der Trost,
als Residenz der toskanischen Großherzöge den Rang unmittelbar nach ihr einzunehmen. In
beiden früheren Jahrhunderten vermochte die ganze Entwicklung zu fesseln; im Cinquecento
liegt ein ungeheuerer Nachdruck auf den beiden ersten Jahrzehnten. Dann tritt eine Art Still-
stand ein (Blütezeit des Manierismus), und erst die zweite Hälfte vermag dem, der entwicklungs-
geschichtlich denkt, Bedeutendes zu sagen; aber wieviel langsamer geht trotzdem der Pulsschlag
als früher! Der Forscher sieht sich veranlaßt, einer Überschätzung jenes ersten Drittels vorzu-
beugen, indem er das Natürliche und Gesetzmäßige seines Werdens und Vergehens aufdeckt;
er wird die zwei anderen Drittel vor Unterschätzung beschützen müssen, indem er ihre entwick-
lungsgeschichtliche Notwendigkeit und die in ihnen enthaltenen Keime des Neuen nachweist.
Im Tre- und Quattrocento liegt der Schwerpunkt auf dem Werden, dem Ringen nach dem Ziel,
im Cinquecento dagegen auf dem Erworbenen, Bleibenden, auf dem festen, reichen geistigen
und künstlerischen Besitz. Die Ziele des Quattrocento lauteten praktisch: Perspektive, Anato-
mie, verfeinerte Farbe. Das Cinquecento formuliert seine Forderungen ganz abstrakt und theo-
retisch: Invenzione, decoro, grazia, oder nach den sprachlichen Postulaten Bembos: gravitä
und piacevolezza. Im Tre- und Quattrocento lernten die jungen Künstler in den Werkstätten
älterer Meister die Grundlagen zu ihrer künftigen Tätigkeit. Im Cinquecento wurden die Aka-
demien, die hohen Schulen der Kunst, gegründet. Diese war damit dem Handwerkerstand endgültig
enthoben und mit höherer Weihe gestempelt; die Theorie hatte an Stelle der handwerklichen
Praxis die Führung übernommen. Voran ging die mediceische Akademie der zeichnenden Künste
(Academia del disegno), 1561 gegründet, am 1. I. 1562 eröffnet. Ihr folgten die Academia del
disegno in Perugia (1573) und die Academia di S. Luca in Rom (1577, Satzungen 1595).
Im Cinquecento fußen Theorie und Praxis wie bisher auf dem plastischen Körperideal.
Allein es ist im Grunde doch ein ganz anderes geworden, und auch seine Beziehungen zur Um-
gebung und seine farbigen Ausdruckswerte haben sich geändert. Man will nicht mehr die vorüber-
gehende, ortsverändernde Bewegung, sondern die in sich beruhende, nur vom Körper selbst ge-
nährte. Das Ausdrucksmittel für dieses Ideal bildet die sog. Figura serpentinata, d. h. die die
Bewegung des S versinnbildlichende Gestalt, bei der aber alle Teile genau gegeneinander ab-