SPÄTGOTIK UND FRÜHRENAISSANCE
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V. Rückblick und Ausblick.
In rund 200 Jahre läßt sich die Entwicklung der mittelitalienischen Malerei der Renaissance unter
Einschluß des Vorspiels und unter Berücksichtigung der ganzen Tätigkeit Michelangelos ein-
spannen. In diesem Zeitraum vollziehen - sich die Lösungen vom gotischen Idealismus, die
Durchführung der rein diesseitigen Kunstanschauung und die Aufstellung eines neuen durchaus
diesseitig gerichteten Idealismus. Hatte schon der gotische Idealismus gegenüber dem frühen
Mittelalter dem Irdischen Einlaß gewährt, so ist für die Gotik in Italien insbesondere das Nach-
wirken der Antike, nicht als äußere Nachahmung, sondern als Vererbung, namhaft zu machen.
Auch muß immer wieder hervorgehoben werden, daß die byzantinische Kunst als Ganzes der
italienischen Kunst als breite Grundlage diente, anders als im Norden, wo sie nur von Zeit zu
Zeit da und dort mehr oder minder stark einschlug.
• Trotz des heute so scharf betonten Gegensatzes zwischen Norden und Süden sei hier zunächst
Gewicht auf die enge Verwandtschaft der künstlerischen Ziele gelegt, die seit etwa 1350 diesseits
und jenseits der Alpen die Künstler bewegten: Optische Eroberung und dann geometrische Kon-
struktion des Raums, Plastizität und mannigfaltige Charakteristik und Beseelung der Gestalten,
Individualisierung der Umgebung, Beobachtung feinster Nuancen in der Farbigkeit usf. In
vielen Punkten scheinen die Lösungen hüben und drüben geradezu identisch zu sein. Und den-
noch führte der klassische Einschlag jenseits der Alpen zur Bezeichnung: Frührenaissance, be-
stärkt durch den Stil der auf den Bildern dargestellten Baulichkeiten. Diesseits der Alpen forder-
ten dagegen die nordische, d. h. gefühlsmäßig malerische Grundlage und die enge Beziehung
des Tafelbildes zu gotischen Altargehäusen und Kirchenräumen und die Darstellung gotischer
Bauten auf den Gemälden den Namen ,,Spätgotik“. Daß im ganzen Verlauf der Entwicklung
und im Erhaltungszustand seiner Werke wie auch im Reichtum an Kunstarten der Süden glück-
licher war als der Norden, bedarf hier keiner Erörterung; nur daran sei erinnert, wie das künst-
lerische Schaffen von wissenschaftlicher Arbeit und theoretischen Untersuchungen begleitet war,
Deutlich ließen sich das allmähliche Abklingen der Gotik, die energische Wendung sowie das
entschlossene Aufgreifen und Durchführen einzelner Aufgaben darlegen und klar die Unter-
schiede einzelner Gruppen bestimmen. Die Gunst der großen Wandbilder, die seit dem Auf-
kommen der Gotik dem Norden versagt war, griff entscheidend in die Entwicklung der Malerei
ein; im Wandbild erprobten sich die kühnsten Versuche der Raumeroberung und Figurenplasti-
zität; im Wandbild aber besannen sich die Meister immer wieder auf die Grundforderungen der
Wandmalerei; das Wandbild war Träger der ersten Versuche in Freilichtmalerei, das Wandbild
allein war Vorraussetzung für die kühne Illusionmalerei, das Wandbild brachte mit fast unbe-
grenztem Maßstab die schlagendsten Effekte von Plastizität, Verkürzung und dekorativen Farben-
und Figurenaufbau. Im Wandbild sprachen Vereinfachung und Rhythmus am stärksten. Was
die Größe der byzantinischen Malerei ausgemacht hatte, kam also auch der italienischen zugute;
die Möglichkeit, in großem Maßstab zu arbeiten und die Themata in großem Format zu sehen.
Alle bedeutenden mittelitalienischen Maler betätigten sich im Fresko. Dieses ging als köstlichstes
Erbe der Vergangenheit an das Cinquecento über; der Barock vermittelte es wieder dem Norden.
Die Großtaten der Hochrenaissanceführer sind nirgends anders als im Fresko zu suchen. Was
wäre uns der Maler Michelangelo ohne die Decke der Sixtina?
Escher, Malerei und Renaissance in Mittel- und Unteritalien.
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V. Rückblick und Ausblick.
In rund 200 Jahre läßt sich die Entwicklung der mittelitalienischen Malerei der Renaissance unter
Einschluß des Vorspiels und unter Berücksichtigung der ganzen Tätigkeit Michelangelos ein-
spannen. In diesem Zeitraum vollziehen - sich die Lösungen vom gotischen Idealismus, die
Durchführung der rein diesseitigen Kunstanschauung und die Aufstellung eines neuen durchaus
diesseitig gerichteten Idealismus. Hatte schon der gotische Idealismus gegenüber dem frühen
Mittelalter dem Irdischen Einlaß gewährt, so ist für die Gotik in Italien insbesondere das Nach-
wirken der Antike, nicht als äußere Nachahmung, sondern als Vererbung, namhaft zu machen.
Auch muß immer wieder hervorgehoben werden, daß die byzantinische Kunst als Ganzes der
italienischen Kunst als breite Grundlage diente, anders als im Norden, wo sie nur von Zeit zu
Zeit da und dort mehr oder minder stark einschlug.
• Trotz des heute so scharf betonten Gegensatzes zwischen Norden und Süden sei hier zunächst
Gewicht auf die enge Verwandtschaft der künstlerischen Ziele gelegt, die seit etwa 1350 diesseits
und jenseits der Alpen die Künstler bewegten: Optische Eroberung und dann geometrische Kon-
struktion des Raums, Plastizität und mannigfaltige Charakteristik und Beseelung der Gestalten,
Individualisierung der Umgebung, Beobachtung feinster Nuancen in der Farbigkeit usf. In
vielen Punkten scheinen die Lösungen hüben und drüben geradezu identisch zu sein. Und den-
noch führte der klassische Einschlag jenseits der Alpen zur Bezeichnung: Frührenaissance, be-
stärkt durch den Stil der auf den Bildern dargestellten Baulichkeiten. Diesseits der Alpen forder-
ten dagegen die nordische, d. h. gefühlsmäßig malerische Grundlage und die enge Beziehung
des Tafelbildes zu gotischen Altargehäusen und Kirchenräumen und die Darstellung gotischer
Bauten auf den Gemälden den Namen ,,Spätgotik“. Daß im ganzen Verlauf der Entwicklung
und im Erhaltungszustand seiner Werke wie auch im Reichtum an Kunstarten der Süden glück-
licher war als der Norden, bedarf hier keiner Erörterung; nur daran sei erinnert, wie das künst-
lerische Schaffen von wissenschaftlicher Arbeit und theoretischen Untersuchungen begleitet war,
Deutlich ließen sich das allmähliche Abklingen der Gotik, die energische Wendung sowie das
entschlossene Aufgreifen und Durchführen einzelner Aufgaben darlegen und klar die Unter-
schiede einzelner Gruppen bestimmen. Die Gunst der großen Wandbilder, die seit dem Auf-
kommen der Gotik dem Norden versagt war, griff entscheidend in die Entwicklung der Malerei
ein; im Wandbild erprobten sich die kühnsten Versuche der Raumeroberung und Figurenplasti-
zität; im Wandbild aber besannen sich die Meister immer wieder auf die Grundforderungen der
Wandmalerei; das Wandbild war Träger der ersten Versuche in Freilichtmalerei, das Wandbild
allein war Vorraussetzung für die kühne Illusionmalerei, das Wandbild brachte mit fast unbe-
grenztem Maßstab die schlagendsten Effekte von Plastizität, Verkürzung und dekorativen Farben-
und Figurenaufbau. Im Wandbild sprachen Vereinfachung und Rhythmus am stärksten. Was
die Größe der byzantinischen Malerei ausgemacht hatte, kam also auch der italienischen zugute;
die Möglichkeit, in großem Maßstab zu arbeiten und die Themata in großem Format zu sehen.
Alle bedeutenden mittelitalienischen Maler betätigten sich im Fresko. Dieses ging als köstlichstes
Erbe der Vergangenheit an das Cinquecento über; der Barock vermittelte es wieder dem Norden.
Die Großtaten der Hochrenaissanceführer sind nirgends anders als im Fresko zu suchen. Was
wäre uns der Maler Michelangelo ohne die Decke der Sixtina?
Escher, Malerei und Renaissance in Mittel- und Unteritalien.
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