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WESEN VON RAFFAELS KUNST
Madonnen und Heilige und mytho-
logische Personen als Idealfiguren
aus. Raffael bezeugt selbst, daß er
seine Gestalten aus dem Gedächtnis,
nach einer Idee male und zur Er-
reichung höchster Schönheit von ver-
schiedenen Erscheinungen das Schön-
ste auswählt. Diese formale Ideali-
sierung wirkte künstlerisch, solange
sie in des Meisters Händen lag; von
den Schülern gehandhabt, wurde sie
zum Manierismus. Diese Allgemein-
heit der Gesichtszüge, dieses Eben-
maß der Formen und diese Abge-
wogenheit der Massen blieb verständ-
lich, solange der reinste Wohlklang
der Linie, wie ihn neben Leonardo nur
Raffael entwickeln konnte, unter-
stützte. Schon die Kunst seines
Lehrers Perugino zeichnete sich durch
Wohllaut aus; aber um wie vieles
tonreicher klingt schon in der um-
brischen Zeit Raffaels Linienmelodie.
230. Raffael, Poesie. Rom, Vatikan. Raffaels internationaler Ruhm
gründete sich jedoch auf die harmo-
nische Ausbildung des inhalts- und gedankenreichen großen Wandbildes (Stanzen) und des einfachen
allgemeinverständlichen Historienbildes (Teppiche); mit diesem beherrschte er zunächst die römische
Malerei, später aber auch die Kunst anderer Länder. Nicht der Gedankenreichtum, nicht die Schön-
heit der Gestalten und Szenerie allein bestimmen den Wert seiner Stanzenfresken, sondern das rest-
lose Aufgehen des Bilderschmucks im vorhandenen Raum. Überall ist dem Wandbild die Herr-
schaft über den Sockel garantiert. Kräftig gemalte Bogen fassen die Erzählungen ein, gemaltes
Relief, keine Raumillusion wie bei Pinturicchios Sieneser Fresken; die großen Gemälde sollten
als Bilder in tiefem Rahmen wirken. Epochemachend wurde nicht allein der Ausgleich der Di-
mensionen in der ersten, sondern auch die Raumwirkung und das Helldunkel der zweiten Stanze.
Am stärksten wirkte dies im Wandbild als Dienerin der Architektur begründete Gleichgewicht
der Massen mit strengster Orientierung nach dem Mittellot, wobei der Augenpunkt mit einem
inhaltlich bedeutsamen Punkt identisch ist oder ihm doch nahe zu liegen kommt. Disputa:
Fuß der Monstranz. Schule von Athen: linke Hand Platos. Messe von Bolsena und Heliodors
Vertreibung: Altarfront. Borgobrand: Schnittpunkt der Kirchentüre mit oberster Stufe.
Nicht minder aber sprach die schlichte Natürlichkeit und Verständlichkeit der auf den
historischen Kernpunkt eingestellten Erzählungen der ,,Teppiche“, die sich als großzügige rhyth-
mische Kompositionen reliefmäßig, leicht ablesbar entwickeln. Raffael inaugurierte aber auch
eine gefällige vom Geist des Altertums getragene Dekorationsmalerei, die in den Grotesken
der vatikanischen Loggien ihren Höhepunkt erreichte. Hier ist das Verdienst des Archäologen,
der die Schätze des Altertums hob und allgemein zugänglich machte, ebenso groß wie dasjenige
WESEN VON RAFFAELS KUNST
Madonnen und Heilige und mytho-
logische Personen als Idealfiguren
aus. Raffael bezeugt selbst, daß er
seine Gestalten aus dem Gedächtnis,
nach einer Idee male und zur Er-
reichung höchster Schönheit von ver-
schiedenen Erscheinungen das Schön-
ste auswählt. Diese formale Ideali-
sierung wirkte künstlerisch, solange
sie in des Meisters Händen lag; von
den Schülern gehandhabt, wurde sie
zum Manierismus. Diese Allgemein-
heit der Gesichtszüge, dieses Eben-
maß der Formen und diese Abge-
wogenheit der Massen blieb verständ-
lich, solange der reinste Wohlklang
der Linie, wie ihn neben Leonardo nur
Raffael entwickeln konnte, unter-
stützte. Schon die Kunst seines
Lehrers Perugino zeichnete sich durch
Wohllaut aus; aber um wie vieles
tonreicher klingt schon in der um-
brischen Zeit Raffaels Linienmelodie.
230. Raffael, Poesie. Rom, Vatikan. Raffaels internationaler Ruhm
gründete sich jedoch auf die harmo-
nische Ausbildung des inhalts- und gedankenreichen großen Wandbildes (Stanzen) und des einfachen
allgemeinverständlichen Historienbildes (Teppiche); mit diesem beherrschte er zunächst die römische
Malerei, später aber auch die Kunst anderer Länder. Nicht der Gedankenreichtum, nicht die Schön-
heit der Gestalten und Szenerie allein bestimmen den Wert seiner Stanzenfresken, sondern das rest-
lose Aufgehen des Bilderschmucks im vorhandenen Raum. Überall ist dem Wandbild die Herr-
schaft über den Sockel garantiert. Kräftig gemalte Bogen fassen die Erzählungen ein, gemaltes
Relief, keine Raumillusion wie bei Pinturicchios Sieneser Fresken; die großen Gemälde sollten
als Bilder in tiefem Rahmen wirken. Epochemachend wurde nicht allein der Ausgleich der Di-
mensionen in der ersten, sondern auch die Raumwirkung und das Helldunkel der zweiten Stanze.
Am stärksten wirkte dies im Wandbild als Dienerin der Architektur begründete Gleichgewicht
der Massen mit strengster Orientierung nach dem Mittellot, wobei der Augenpunkt mit einem
inhaltlich bedeutsamen Punkt identisch ist oder ihm doch nahe zu liegen kommt. Disputa:
Fuß der Monstranz. Schule von Athen: linke Hand Platos. Messe von Bolsena und Heliodors
Vertreibung: Altarfront. Borgobrand: Schnittpunkt der Kirchentüre mit oberster Stufe.
Nicht minder aber sprach die schlichte Natürlichkeit und Verständlichkeit der auf den
historischen Kernpunkt eingestellten Erzählungen der ,,Teppiche“, die sich als großzügige rhyth-
mische Kompositionen reliefmäßig, leicht ablesbar entwickeln. Raffael inaugurierte aber auch
eine gefällige vom Geist des Altertums getragene Dekorationsmalerei, die in den Grotesken
der vatikanischen Loggien ihren Höhepunkt erreichte. Hier ist das Verdienst des Archäologen,
der die Schätze des Altertums hob und allgemein zugänglich machte, ebenso groß wie dasjenige