DAS PROBLEM „MICHELANGELO
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fachsten Fall ringt der Wille mit der Körpermasse, ringt diese mit einer Last oder einer äußeren
Macht; bald schildert er den schönen Sieg der Energie über das Temperament, der erhabenen
Ruhe über die dunkeln Mächte, bald aber auch über die ganze Schwere tragischer Konflikte,
in denen die gefesselte Seele aufstöhnt in den mit aller niederziehenden Erdenschwere behafteten
Körpern. Leonardo hat die Aktionen als durch seelische Vorgänge bedingt dargestellt. Für den
schwerblütigen Michelangelo, dem die Konflikte mit der nächsten Umgebung die Jugend ver-
düsterten, war dies Aufzählen von Beobachtungen und Erläutern an Beispielen zu einfach; wie
sich ihm das Leben nur in Konflikten offenbart hatte, so war für ihn die Erscheinung und Be-
gebenheit, selbst ohne tragische Note, nichts anderes als Aktion und Gegenaktion in vollster Ent-
faltung des körperlichen Volumens. Auf die Wahrung des Gleichgewichts und die ausgleichende
Führung aller Richtungen, nicht auf physiognomische Experimente kam es ihm an. Wie oft ver-
deckt er das Gesicht, bei dem wir die interessantesten mimischen Vorgänge voraussetzen und
überträgt den Ausdruck des Seelischen der Haltung, der Gebärde, dem Umriß und der Lagerung
der Gliedmaßen und Kleider! Körpervolumen und Intensität der Gebärden gehen in seinen Haupt-
werken (Sixtinische Decke) so eng zusammen, daß wir uns, wie bei seinen Skulpturen ohne wei-
teres von der Intensität des Gefühlslebens überzeugen lassen. Bei Leonardo setzt der seelische
Vorgang je nach seiner Beschaffenheit die Körper in Bewegung; Michelangelo läßt den Beschauer
meistens die Schwere des Daseins, die Menge der Kämpfe und den Kraftaufwand, der zur Über-
windung nötig ist, ahnen. Bei Michelangelo erleben wir die Wirkung des Erhabenen, das zuerst
erniedrigt, dann aber zu sich heranzieht. Das Michelangeloerlebnis findet in Goethes Wort seine
Bestätigung: „Ich fühlte mich so klein, so groß“.
Michelangelo stellt in seiner langen Entwicklung drei verschiedene Zeitalter der Kunst
dar. Die Körperproblematik des Quattrocento bringt er durch seine unübertroffenen Kennt-
nisse zum Abschluß; aber in der Häufung der Ausdrucksmöglichkeiten zeigt er sich als Quattro-
centist. Indem er dann die plastischen Konfliktprobleme einer scharfen Revision unterzog, dabei
eine Reihe neuer Möglichkeiten entdeckte und zugleich alle entbehrlichen Zutaten ausschied
und die jeweilige Aufgabe mit nie dagewesener Schärfe und Klarheit erfaßte, wuchs er in die
Anschauungen der Klassik hinein. Er selbst aber mußte diese sprengen. Mehr als für Raffael
und Leonardo war die „Hochrenaissance“ für ihn Durchgangsstadium. Seine geistdurchglühte
Plastizität ließ sich es nicht lange an der Form allein genügen; die Form wuchs und erstarkte
ins Riesenhafte und brauchte wieder den Raum. Aber sowie er ihn als Unbegrenztheit bean-
spruchte, da rächte es sich, daß er im Grunde Einzelplastiker geblieben war. Dazu erstickte das
Feuer seelischer Belebung allmählich im materiellen Übergewicht der Körper. Den Einklang
zwischen Figur und Raum erreichte er nie; mit erdrückenden Massen, welche die Raumtiefe heran-
zwingen sollen und mit notdürftiger Bezeichnung verdrängter Raumvolumina mußte er vor der
jenigen Macht kapitulieren, die sich ihm bei Verbindung von Architektur und Plastik überaus
günstig zeigte, die dem greisen Maler aber, der ihr einst naiv ins Auge geblickt hatte, zeigte,
wo er sterblich war.
Den Plastiker Michelangelo hat Brinckmann in der Geschichte der Barockskulptur gewürdigt; ebenda ist
auch das biographische Material gesammelt, sodaß sich die Einführung im Rahmen einer Skizze halten durfte
und eine Biographie erübrigt.
Hat Michelangelo als Malerplastiker den Barock eröffnet? Indem er der ursprünglichen
Fassung des Juliusgrabes zufolge in der Sixtinadecke dem Tektonisch-Funktionellen auch die
Innervation durch lebendige, nur dem architektonischen Gedanken dienende Gestalten verlieh,
nahm er ein wesentliches Problem des Barocks vorweg. Dadurch aber, daß er mit herbster Ein-
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fachsten Fall ringt der Wille mit der Körpermasse, ringt diese mit einer Last oder einer äußeren
Macht; bald schildert er den schönen Sieg der Energie über das Temperament, der erhabenen
Ruhe über die dunkeln Mächte, bald aber auch über die ganze Schwere tragischer Konflikte,
in denen die gefesselte Seele aufstöhnt in den mit aller niederziehenden Erdenschwere behafteten
Körpern. Leonardo hat die Aktionen als durch seelische Vorgänge bedingt dargestellt. Für den
schwerblütigen Michelangelo, dem die Konflikte mit der nächsten Umgebung die Jugend ver-
düsterten, war dies Aufzählen von Beobachtungen und Erläutern an Beispielen zu einfach; wie
sich ihm das Leben nur in Konflikten offenbart hatte, so war für ihn die Erscheinung und Be-
gebenheit, selbst ohne tragische Note, nichts anderes als Aktion und Gegenaktion in vollster Ent-
faltung des körperlichen Volumens. Auf die Wahrung des Gleichgewichts und die ausgleichende
Führung aller Richtungen, nicht auf physiognomische Experimente kam es ihm an. Wie oft ver-
deckt er das Gesicht, bei dem wir die interessantesten mimischen Vorgänge voraussetzen und
überträgt den Ausdruck des Seelischen der Haltung, der Gebärde, dem Umriß und der Lagerung
der Gliedmaßen und Kleider! Körpervolumen und Intensität der Gebärden gehen in seinen Haupt-
werken (Sixtinische Decke) so eng zusammen, daß wir uns, wie bei seinen Skulpturen ohne wei-
teres von der Intensität des Gefühlslebens überzeugen lassen. Bei Leonardo setzt der seelische
Vorgang je nach seiner Beschaffenheit die Körper in Bewegung; Michelangelo läßt den Beschauer
meistens die Schwere des Daseins, die Menge der Kämpfe und den Kraftaufwand, der zur Über-
windung nötig ist, ahnen. Bei Michelangelo erleben wir die Wirkung des Erhabenen, das zuerst
erniedrigt, dann aber zu sich heranzieht. Das Michelangeloerlebnis findet in Goethes Wort seine
Bestätigung: „Ich fühlte mich so klein, so groß“.
Michelangelo stellt in seiner langen Entwicklung drei verschiedene Zeitalter der Kunst
dar. Die Körperproblematik des Quattrocento bringt er durch seine unübertroffenen Kennt-
nisse zum Abschluß; aber in der Häufung der Ausdrucksmöglichkeiten zeigt er sich als Quattro-
centist. Indem er dann die plastischen Konfliktprobleme einer scharfen Revision unterzog, dabei
eine Reihe neuer Möglichkeiten entdeckte und zugleich alle entbehrlichen Zutaten ausschied
und die jeweilige Aufgabe mit nie dagewesener Schärfe und Klarheit erfaßte, wuchs er in die
Anschauungen der Klassik hinein. Er selbst aber mußte diese sprengen. Mehr als für Raffael
und Leonardo war die „Hochrenaissance“ für ihn Durchgangsstadium. Seine geistdurchglühte
Plastizität ließ sich es nicht lange an der Form allein genügen; die Form wuchs und erstarkte
ins Riesenhafte und brauchte wieder den Raum. Aber sowie er ihn als Unbegrenztheit bean-
spruchte, da rächte es sich, daß er im Grunde Einzelplastiker geblieben war. Dazu erstickte das
Feuer seelischer Belebung allmählich im materiellen Übergewicht der Körper. Den Einklang
zwischen Figur und Raum erreichte er nie; mit erdrückenden Massen, welche die Raumtiefe heran-
zwingen sollen und mit notdürftiger Bezeichnung verdrängter Raumvolumina mußte er vor der
jenigen Macht kapitulieren, die sich ihm bei Verbindung von Architektur und Plastik überaus
günstig zeigte, die dem greisen Maler aber, der ihr einst naiv ins Auge geblickt hatte, zeigte,
wo er sterblich war.
Den Plastiker Michelangelo hat Brinckmann in der Geschichte der Barockskulptur gewürdigt; ebenda ist
auch das biographische Material gesammelt, sodaß sich die Einführung im Rahmen einer Skizze halten durfte
und eine Biographie erübrigt.
Hat Michelangelo als Malerplastiker den Barock eröffnet? Indem er der ursprünglichen
Fassung des Juliusgrabes zufolge in der Sixtinadecke dem Tektonisch-Funktionellen auch die
Innervation durch lebendige, nur dem architektonischen Gedanken dienende Gestalten verlieh,
nahm er ein wesentliches Problem des Barocks vorweg. Dadurch aber, daß er mit herbster Ein-