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Geschichte einer Gans.

Thier ihrer Putzmacherin. Als das Geschenk anlangte, war die
Modehändlerin gerade von ihren Arbeiterinnen umgeben und
man hatte die Gans auf den Arbeitstisch neben kostbare Gase
und Seidenstoffe niedergelegt. — „Fort, mit diesem wüsten
Vieh," schrie die Putzmacherin voll Zorn, „ihr werdet mir die
schönsten persischen Stoffe besudeln." — Als sie jedoch erfuhr,
daß es ein Geschenk von Madame Dunoyer wäre, einer ihrer
besten Kunden, so besänftigte sie sich, dankte herzlich und gab
dem Bedienten ein Trinkgeld. Tie Arbeiterinnen, Ivelche Kost
und Wohnung bei ihrer Meisterin hatten, blickten sich freudig
an, im Vorgefühl einmal einen guten Bissen zu erhalten, da
sie gewöhnlich mit etwas magerer Kost sich begnügen mußten. —
„Johann," sagte die Putzmacherin zu ihrem Ausläufer, „gehe
doch zu Madame Chinay, mache ihr meine Empfehlung und bitte
sie diese Gans anzunehmcn." — Der Braten wanderte also wie-
der fort und die Ladenjungfern schnitten lange Gesichter. —
„Diese gute Madame Bodelin" (so hieß die Putzmacherin), sagte
Madame Chinay, „schickt mir da eine Gans! Weiß sie aber
nicht, daß ich jeden Tag außerhalb esse; einige Pfund Chokolade
wären mir weit willkommener gewesen." — Madame Chinay
war eine Bittschriftenmacherin; sie belagerte stets die Ministerien
mit ihren Gesuchen und hatte die Gewogenheit der Herren Be-
amten nöthig; sie dachte daher sogleich an einen gewissen Bois-
selet, ein braver Mann und Angestellter zu 1800 Frcs., dessen
Faniilie sie kannte; sie ließ einen Ausläufer kommen und trug
ihm auf, die Gans zu Madame Boisselet zu tragen. Diesmal
war sie gewiß gut angebracht, ein Schwarm hungriger Kinder
umgab sie sogleich und die freudige Mutter hob sie in die Höhe
und schien sich an ihrer Schwere zu ergötzen. — „Wir werden
sie heute essen, nicht wahr, Mama?" sagten die Kinder. —
„Wenn Euer Papa will." — Mittlerweile kam Herr Boisselet
nach Hause; er wurde bis zu Thränen gerührt von der Güte
der Madame Chinay und nahm sich vor, wenn sie in das
Ministerium käme, ihr seinen herzlichen Tank abznstatten. —
„Wohlan, ich will sie gleich an den Bratspieß stecken," sagte
Madame Boisselet, „es ist der Wille der Madame Chinay und
diesen Kindern ist es ein wahres Fest." — „Geduld ein wenig,"
sagte Herr Boiffelet. „Nicht wahr, Rosalie," sagte er, indem
er sich an die Aelteste seiner Töchter wandte, einer jungen schö-
nen Person von achtzehn Jahren, „nicht wahr, du liebst von
Herzen den Jules Durand, den liebenswürdigsten und emsigsten
unsrer überzähligen Angestellten?" — „Ja, Vater, ich liebe
ihn von Herzen." — „Wohlan denn, dieser Jules Durand ist
aus demselben Departement, wie Herr Nicot, Deputirter, den ich
die Ehre habe zu kennen; ein Wort von diesem Deputirten oder
blos eine Apostille und Jules Durand ist vortheilhaft plaeirt.
Dann hat unsre Tochter Rosalie einen Gemahl. Ich bin also
der Meinung, die Gans dem Herrn Nicot zu schicken." —
Fräulein Rosalie war auch dieser Meinung und die Mutter
hatte nichts einzuwenden. Ten Kindern versprach man, als
Vergütung, einen Reiskuchen, und Herr Boisselet schrieb einen
' höflichen Brief an Herrn Nicot, dem er die Bittschrift des jun-
: gen Durand beilegte. Man wickelte das Ganze in eine saubere
Serviette und Herr Boiffelet trug das Paquet selbst fort. Er

mußte sich an den Thorschließer wenden, denn Herr Nicot war
ausgegangen. — „Ich bitte Sie," sagte Herr Boisselet, „Herrn
Nicot dies Paquet einzuhändigen, sobald er nach Hause kommt."

— „Ich werde nicht ermangeln," sagte der Partner. — Also
ist die Gans wieder an demselben Punkt angelangt, von wo sie
ausgegangen war, nach dem Vers des Horaz: uinte adii reäso.
•— Als Herr Nicot zurückkam, sagte der Partner: „Mein Herr,
es ist ein Paquet für Sie da." — „Für mich?" — „Ja, mein
Herr, man hat es mir sehr anempfohlen." — „Laßt sehen,"
sagte Nicot. Er trat bei deni Partner ein, und machte das
Paquet auf. — „ Eine Gans! eine prächtige Gans!.. . und
auch ein Brief!" Er nahm hastig den Brief, las ihn, und
durchlief auch die Bittschrift. — „Dieser gute Boiffelet," sagte
er, „ist doch ein vortrefflicher Mann, ein einsichtsvoller, pünkt-
licher, arbeitsamer Beamter, der schon zwanzig Jahre in einem
untergeordneten Amte steht; er wird befördert werden, und der
junge Durand, der die schönsten Hoffnungen gibt, soll nicht
lange Ueberzähliger bleiben." — Hierauf nahm er die Gans
mit beiden Händen, trug sie in die Küche und befahl dem Koch,
sie sogleich an den Bratspieß zu stecken, damit sie bis Mittag
gar werde. — „Ganz wohl," sagte der Koch, „allein die Ma-
dame hat schon den Küchenzettel gemacht; es ist schon ein Braten
beim Feuer." — „Gut, so werden wir zwei haben." — „Wie
es Ihnen beliebt." — Der Koch schickte sich sogleich an, die
Gans ans Feuer zu bringen und Herr Nicot ging auf sein
Zimmer. — Fräulein Lisette, die Kammerjungfer, welche über-
all herumschnoberte, gewahrte sogleich, was in der Küche vorging
und stattete ihrer Gebieterin treulich Bericht ab. — „Madame,"
sagte sie, „die Gans von diesem Morgen ist an dem Bratspieß!"

— An deni Bratspieß bei Madame Dunoyer," sagte Madame
Nicot. — „Nein, Madame, an dem Bratspieß in unserer Küche;
ich erkannte sie deutlich an den schwarzen Schwanzfedern und an
dem lahmen Fuß."— „O Lisette, sie scherzt glaube ich, diese
Gans müßte ja wie sie ist, in unsere Küche geflogen sein." —
„Ich versichere Sie, Madame, daß ich sie gesehen habe." —
Madame Nicot war von höchst heftiger, aufbrausender Gemüths-
art und es war ihr unendlich viel an dem gutem Ton und der
feinen Sitte an ihrem Tische gelegen. Sie eilte daher zornglühend
in die Küche, gab dem Koch einen derben Verweis und ließ die
Gans vom Spieß losmachen und zum Fenster hinauswerfen.
Das Küchenfenster ging auf den Hof hinaus und die Gans, von
kräftiger Faust geschleudert, fiel gerade vor dem Hofhund nieder,
der sich sogleich anschickte, eine Mahlzeit zu halten, wie ihm lange
Zeit keine zu Theil geworden. — Die Zeit des Mittagessens
war herbeigekommen. Der Obrist, als er am Arme der Madame

: Nicot durch das Zimmer schritt, welches in den Eßsaal führt,
warf zufälligerweise einen Blick in den Hof. — „Da ist glaub'
ich ein Hund," sagte er zu Madame Nicot, „der wahrlich gut
genährt wird; wenn ich nicht irre, so frißt der Kerl an einem
Huhn." — „Nein, Herr Obrist," versetzte lächelnd Madame
Nicot, „es ist eine Gans." — „Eine Gans?" sagte Herr Nicot,
der seiner Frau ans dem Fuße gefolgt war und das ganze Ge-
spräch mit angehört hatte, „es ist meine Gans!"—Es war
nicht möglich, den Doggen dieses Diebstahls zu beschuldigen, denn

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