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Der Schneider von Ulm.

Der Meister, welcher in den buschigen Brauen mehr -Haare
zählte, als auf dem ganzen Scheitel, heftete die stieren, gläsernen
Augen wie im Starrkrampf auf das zierliche -Knopfloch, das
unter seiner kunstgeübten -Hand entstand. Nur wann ihm der
Faden ausging, erlaubte er flch einen schnellen, tiefen Griff in
seine silberbeschlagene Gemshorndose, oder nahm er sich Zeit, die
große, messingene Steckbrille, welch« nie ganz sattelfest auf sei-
ner Stumpfnase sitzen wollte, zurecht zu stecken.

Weniger eiftiz war der hoffnungsvolle Lehrling, der einen
ansehnlichen Wasserkopf auf dünnem Halse balancirte. Ihm schien
es nicht unwillkommen zu sein, wenn eine naseweise Fliege auf
dem grünen Flecke spazieren ging, den er mit langweiligen Hin-
terstichen an den Ellenbogen eines braunen WammseS setzen
sollte. Alsbald ließ er die Waffe ruhen, eine ächt-englische Na-
del aus Schwabach bei Nürnberg, und holte mit der Hand aus, .
die Arglose zu fangen. Leider machte dann nicht selten der
Meister mit seiner knöchernen Rechten unversehens dieselbe Be-
wegung, und der geschickte Mückenfänger hatte gleichzeitig die
Fliege sammt einer Ohrfeige bekommen.

Um alles dieses kümmerte sich nicht im geringsten in diesem
Bunde der Dritte, ein fast drei schwäbische Ellen langer Bur-
sche, mit einem mehr als proportionirten Halse zwischen schma-
len Schultern. Die fteigebige Natur hatte an seiner Nase nicht
gespart; gleich einem kühngebogenen Adlerschnabel stand sie zwi-
schen den tiefliegenden Augen, die sinnend dem Fluge der Doh-
len folgten, während seine Hand ganz mechanisch einen Rockär-
mel an eine Hosentasche nähte.

„O du armer Schneidergeselle!" dachte er seufzend bei sich
selbst, „da hockst du nun schon manches Jahr auf der Hölle
hier, und wirst hier hocken, bis dein schlanker Körper zusam-
menschrumpft, und deine lange, ellengerade Wirbelsäule über-
flüssige Schnörkel macht, wie jene des Meisters dort. Ach!

' wär' ich eine Dohle, und meine Annamarie, die geliebte Weiß-
näherin, auch solch ein schwarzer Vogel, wie selig segelte ich
gleich mit ihr auf den Thurm des alten Münsters hinüber!
Wir bauten uns ein Nest, und fütterten es aus mit lauter sei-
denen Flecken und Flaum, und führten ein Leben als wie die
Engel im Himmel! Oder wenn ich nur wenigstens fliegen könnte!
Welche Lust, sich ftei in der Luft zu wiegen, statt hier wie an
i die Galeere geschmiedet zu seufzen und zu schneidern. Wie würde
Annamarie vor Schrecken und Erstaunen die Nadel fallen las-
sen, wenn ich plötzlich an ihr Dachfenster angeflogen käm' und
zu ihr sagte: „Guten Morgen, Annamarie! Immer fleißig bei
der Näherei? Ich muß doch im Vorbeifliegen sehen, was du
machst," und dergleichen galante Redensarten mehr. „O Herr
Jemini! und dann flatterte ich in der weiten Welt herum, und
fänd' überall ganze Haufen von Silber und Gold, und wäre
bald der reichste Mann und Annamarie meine Frau. Für das
dünne Röckchen und das enge Spenzerchen von gedrucktem Cat-
tun macht' ich ihr prächtige Kleider von Seide und Sammet,
und mehr Perlen müßte fie am Hals und in den Haaren tra-
gen, als ich an einem Tage Stiche machen kann."

Diese und ähnliche Gedanken stiegen täglich in der treuen

Schneiderseele auf, und der träumerische Bursche versank dabei
in so tiefes Sinnen und Grübeln, daß ihm oft der Verstand
und die Hand gleichzeitig stille standen.

„He, Joseph!" rief dann wohl der Meister ungeduldig, ihm
auf die hagere Schulter klopfend, „ist keine Prise gefällig?"

„Dank!" stotterte Joseph, schnell aus der Hölle, in. die
während seiner Himmelsträume die langen Beine allzu tief hin-
eingesunken waren, flch emporraffend, „dank', Herr Meister! ich
schnupfe nie," und bei diesen Worten zuckte plötzlich wieder seine
Nadel so pfeilschnell durch die Luft, daß der erschrockene Lehr-
bube sein nicht unbedeutendes Augenpaar nur durch geschwindes
Niederducken retten konnte. Allein ein Blick des brummenden
Meisters war hinreichend, auch Diesen zur eiftigsten Arbeit an-
zuspornen, und um die Wette fuhren dann eine Zeit lang drei
kunstgeübte Schneiderarme ein und aus, als galt’ es das ganze
ehemalige Reichskontingent der guten Stadt Ulm an einem Tage
vom Wirbel bis zur Zehe zu uniformiren.

Und wieder einmal saß Joseph, die Hände ruhig !m Schooße,
so verklärt da, wie sein heiliger Namensxatron in einem Wachs-

figurenkabinet, und träumte und studirte trotz den Tischgenossen
des Weltentdeckers Columbus, als fie das Ei auf die Spitze
stellen sollten. Tiefe Stille herrschte im Gemach, und man
vernahm nichts als das Schnurren der Fäden und das kräch-
zende Geschrei der Dohlen, deren Flug Joseph mit weit vor-
gebeugtem Leib unverwandten Blickes folgte. Plötzlich schien
ihn eine unsichtbare Macht emporzureißen, und beide Arme
blindlings auf - und niederschlagend, daß der Meister und der
Lehrbube verdutzt mit den Köpfen aneinanderfuhren, rief er ju-
belnd aus: „Ich hab's! Ich hab's!"

„Was hast du?" schrie der Meister,, mit beiden Händen
der Schläge sich erwehrend und zuckende Blicke auf die Arbeit
in Josephs Schooße schießend, „was hast du? Verrückter Ge-
selle! einen Rockärmel hast du an die Hosentasche genäht." j
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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Schneider von Ulm"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Stauber, Carl
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Schneider
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 3.1846, Nr. 69, S. 162
 
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