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2 Daö un heim

wo nicht nur nach christlicher Zeitrechnung ein altes Jahr
stirbt und zu Grabe getragen wird, sondern was noch mehr
ist, wo ich selbst vor 59 Jahren das Licht der Welt erblickte!
Jst'ö 'nicht abscheulich — ja, niederträchtig?"

Der Revisionsrath Thurnehsser war aber von Grund
aus ein sehr ruhiger und bedächtiger Mann. Deßhalb konnte
selbst ein solches Unglück, wie ein vergessener Hausschlüssel,
sein Gcmüth nur einen Augenblick außer Fassung bringen.
Er betrachtete den Klingclgriff in seiner Hand und fuhr dann
! — langsam von dannen gehend — in seinem Selbstgespräche
fort: „Ei, ei, ei, mein lieber Balthasar, was haben wir denn
da in unserem jugendlichen Leichtsinn und Uebermuth gemacht?
reißen unö selbst mit eigener Hand den Glockenzug ab, was
uns doch die lieben Gassenjungen wöchentlich mindestens ein-
mal weit schneller und präciser besorgen, renken uns dabei
j den Arm fast aus und wisten doch, daß wir unserem alten
l Wirthschaftsinvcntarium, der Frau Steideln, ausdrücklich ge-
stattet haben, sich zwischen 6 und 8 Uhr behufs kleiner Einkäufe
vom Hause zu entfernen! Hm! hm! Da schlägt's eben ein
Viertel nach sechs — wenn die Steideln ebenso pünktlich
! zurückkommt, wie sie wcggegangcn ist, so können wir das
Vergnügen haben, hier zwei Stunden lang Schildwacht zu
stehen und werden unS zweifelsohne bei dieser Gelegenheit
! einen ganz gehörigen Katarrh zuziehcn. Da möcht's denn
! doch wohl gcrathencr sein, die paar Straßen znrückzugehen
bis zum Markt und bei einem Schoppen Eilfer unsere Ver-
bannungSzeit abzusitzcn!"

Die ausgetretenen Stufen zum Rathsweinkellcr hinunter
stieg der Nevisionsrath; klirrend schlug die niedere eisen-
! beschlagene Pforte hinter ihm zu. Bald saß er in einem
warmen Schmollwinkel, den Rücken an einen Pfeiler des
! prächtigen Gewölbes gelehnt, vor ihm auf dem schwer-
fälligen Eichcntisch ein GlaS duftenden Rebensaftes. — Einsam
1 war cs in dem sonst von fröhlichen Zechern belebten Raume;

! sogar der alte Küfer hatte heut' als am Sylvesterabend den
: eigenen Hccrd früher als gewöhnlich ausgesucht, seinen
Posten einem jungen rührigen Burschen anvcrtraucnd. Rath
! Thurnehsser hatte wohl Zeit und Gelegenheit, seinen Ge-
danken Audienz zu geben und daö that er denn auch nach
besten Kräften. Die Augen ans die steinerne Rose, welche
den Schlußstein der riesigen Wölbung bildete und in dem
herrschenden Dämmerlicht fast wie ein grinsendes Menschcn-
gcsicht auösah, geheftet, mit gekreuzten Armen, eine alte
i Melodie vor sich hinsummcnd, zu der die Füße halblaut den
Tact schlugen: so saß Herr Balthasar Traugott Thurncyster
und ließ die Bilder der Vergangenheit aufsteigen aus dem
dunklen Schrein, in welchem sie gelegen hatten lange Jahre,
bedeckt von dem Staub der Alltäglichkeit und dem Spinn-
gewebe deö Vergestens.

Da kauerte er als Kind zu den Füßen einer alten Frau
mit hoher, weißer Dormeuse, welche Bänder hatte wie Wind-
mühlenflügel. Das war die Muhme Gertrud; sie wußte
wundervolle Spukgeschichten zu erzählen, daß einem dabei die
Haare zu Berge standen — nur schade, bei den gruseligsten

iche Zimmer.

Stellen trat oft unvermuthct der gestrenge Papa in's Zimmer
— ein sehr materialistisch gesinnter Herr — und führte einen
ebenso verfrühten als disharmonircnden Schluß herbei, indem er
der guten Muhme Gertrud, ohne Rücksicht auf die gespannte
Erwartung des jugendlichen Zuhörers, einfach den Mund verbot.

Da schlich er — der kleine Balthasar — scheu durch
die langen Flure und Gänge des väterlichen Hauses — blickte
verstohlen zu den Drachen- und Teufelsköpfen hinauf, die in
künstlicher Holzschnitzerei das Deckengebälk zierten, und bei dem
falben, flackernden Schein eines Wandleuchters unheimlich
grinsten und zu nicken schienen. Da stand er endlich vor-
dem Ziele seiner kindlichen Sehnsucht und Furcht, nur
noch eine dunkle eichene Thür trennte ihn von seines Groß-
vaters Bibliothek, die auch zugleich das Sterbezimmer des
alten Profcstors und Meisters im Schachspiel geworden war.

Das strenge Verbot, diesen heiligen Raum, in welchem
noch Alles auf dem nämlichen Fleck stand und lag, wie vor
25 Jahren, als der alte Herr mitten in einer Schachparthie
vom Schlage getroffen wurde — zu betreten, jenes Verbot
verfehlte natürlich seine Wirkung nicht und mit Zauberkraft
zog es den kleinen Balthasar immer und immer wieder nach
jenem entlegenen Theil des Hauses.

Hätte ihm doch die Muhme Gertrud nicht flüsternd
vertraut, daß der Großvater eigentlich gar nicht todt sei und
begraben, sondern noch dort auf dem schwarzen Lederstuhl
sitze, ihm gegenüber der Vetter Schildriem, zwischen ihnen das
Schachbrett, wie damals; und sie spielten noch immer an
jener Parthic, die erst dann ihr Ende erreiche, wenn ein
Dritter vorwitzig das Zimmer betrete und sie störe; in dem
Augenblick gewinne Einer das Spiel und zerfalle in Staub
und Asche, der Verlierer aber drehe aus Rache dem frechen
Eindringling den Hals um: deßhalb werde das Zimmer stets
fest verschlossen gehalten und Niemand dürfe hinein — das
wisse sie ganz genau! —

„Dummes Zeug!" brummte der Revisionsrath vor sich
hin, „abgeschmacktes Wcibergewäsch! Die Muhme Gertrud
war eine alberne Gans, das will ich ihr gleich beweisen!"
warf dabei das Geld für ein paar Schoppen Eilfer auf den
Tisch, stülpte seinen Hut auf und stieg die Kellerstufen hinan.

Ucber den Marktplatz schritt er, und durch eine Seiten-
gafle nach der Katharinenstraße auf sein HauS zu, das
schweigend stand und düster bis auf ein Fenster im ersten
Stock, aus welchem ein mattes Licht hervorschimmerte.

„Könnte auch in's Nest kriechen, die alte Person, die
Steideln! Braucht gar nicht zu warten bis ich komme! Soll
sich diese Bevormundung ein für allemal abgewöhnen!" Die
halbosfene Hausthür siel hinter dem Revisionörath in's Schloß,
daß cs dumpf aus den weiten Räumen zurückschalltc, und
unter seinen Tritten knirrschte der Sand auf den Stufen.

Als er den ersten Absatz erstiegen, öffnete sich oben ge-
räuschlos eine Thürc und eine alte Dame mit hoher weißer
Dormeuse, welche Bänder hatte wie Windmühlenflügel, trat
an's Geländer und leuchtete mit einer blanken, zinnernen
Lampe, die sie in der Hand hielt.
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