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Fräulein
vor dem er oft stand, lim hineinznsehen, wenn Marie beim
Lichte einer armseligen Thonlampe ihrer greisen Mutter aus
der Bibel vorlas; das war unterhalb des Fensters die hölzerne
Bank, auf der er so oft Hand in Hand mit dem geliebten
Mädchen gesessen! Endlich raffte er sich auf und sah der
Reihe nach durch die drei Fenster des Häuschens. Das waren
lauter fremde Menschen, die ihm neugierig entgegensahen. Es
überschlich ihn ein eigenthümliches Unbehagen, rnid er beschloß,
für seine Unterkunft zu sorgen und erst am andern Tage seine
Tochter anfzusuchen.
Er durchschritt das schmale Gäßchen, das nach dem Mittel-
punkte der Ortschaft führte, und war eben an der Ecke vor
dem Marktplatze angelaugt, als ihm aus dem geräumigen Hofe
eines der Eckhäuser helles, heiteres Lachen eutgegenschallte. Er
blieb unwillkürlich stehen, und thnt einen neugierigen Blick durch
das breite Thor in den Hofraum. Da sah er eine Schaar
dirndl.
ärmlich gekleideter, aber frisch und rothwaugiger Kinder, welche
stehend und ans dem Grasboden sitzend eine Frauengestalt um-
gaben, deren Aufgabe es schien, den lauschenden Kleinen heitere
Geschichten zu erzählen, denn sehr oft wurde die Erzählerin von
lustigem Gekicher der Kleinen unterbrochen, das bei vielen
Stellen von Händeklatschen begleitet wurde. Scheffelberg ver-
mochte nicht' es sich zu versagen, die Gruppe näher zu
betrachten. Er trat tiefer in die Thorwölbung hinein, und
fand nun, daß die Erzählerin auf einem großen Steine neben
einer alten, ärmlich gekleideten Frau saß, deren Gesicht ihm
eben zngekehrt war. Er erkannte die Person, obtvohl er sie
seit achtzehn Jahren nicht gesehen, und trotz des Kummers, der
ihr Gesicht durchsaltet hatte, sogleich.
Es war Rasel, die Ziehschwestec seiner verstorbenen Marie.
Auch sie mußte den Eingetretenen erkannt haben, denn in sicht-
licher Erregung war sie anfgestanden und machte Miene, als
wollte sie ihm zurufen.
„Dort ist ein . . . Fremder", sagte sie indes; zu dem
Mädchen, das neben ihr mit abgewandtem Gesichte saß.
„Frage ihn, was er hier sucht!"
Die Angeredete wandte sich nach dem Fremden und als
sie die freundliche Erscheinung desselben in's Auge gefaßt, stand
sie sogleich auf und trat ihm ohne Scheu entgegen.
Es war ein ungewöhnlich schönes Mädchen mit hellblauen
großen Augen und schlanker, ebenmäßiger Gestalt. Unter dem
schwarzen, kunstvoll geknüpften und nach rückwärts in zwei
breiten Enden herabwallenden Tuche drängten sich goldblonde
Flechten hervor. Scheffelberg war beim Anblicke dieser uner-
warteten Erscheinung ivie erstarrt. Er war wie angewurzelt
stehen geblieben. Seine Lippen aber murmelten den Namen
„Marie! " und zwar laut genug, daß es dem seinen Gehöre
der älteren Frau nicht entgangen war.
„Hans!" schrie sie, überwältigt von ihrer inneren Be-
wegung, und eilte ans Scheffelberg zu. Das blonde Mädchen
aber blieb überrascht und verwundert stehen.
„Rosel!" stammelte Scheffelberg gerührt und drückte treu-
herzig der Frau die Hand, wobei er jedoch einen Seitenblick
nach dein Mädchen warf.
„Sie ist's?" fragte er leise.
„Ja, 's ist die Hanne!" erwiderte Rosel ebenso.
• „Ihr leibhaftiges Ebenbild!" sagte Schefselbcrg bewegt.
„Es ist schon so," bestätigte Rosel, „aberIhr Temperament
ist ein ganz anderes."
Jndeß waren die Kinder, welche über das was sich hier er-
eignete, Angen und Mund weit aufgethan hatten, tvieder an das
blonde Mädchen herangeschlichen, um es mit den kleinen Hündchen
an den Falten des weiten geblümten Rockes zu fassen.
-(Fortsetzung folgt.)
Abgekürzt.
Der Schultheiß Joseph Zacharias Götz hat mehrere
Protocolle zu unterzeichnen. Da ihm das Schreiben nicht recht von
der Hand geht, wird der Landrath ungeduldig und fordert ihn auf,
seinen Namen doch abzukürzen, damit er schneller fertig werde.
Diesem Befehle kommt der Schultheiß auch sofort nach, indem
er sich unterzeichnet: Joseph Zacharias Gö.
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Fräulein
vor dem er oft stand, lim hineinznsehen, wenn Marie beim
Lichte einer armseligen Thonlampe ihrer greisen Mutter aus
der Bibel vorlas; das war unterhalb des Fensters die hölzerne
Bank, auf der er so oft Hand in Hand mit dem geliebten
Mädchen gesessen! Endlich raffte er sich auf und sah der
Reihe nach durch die drei Fenster des Häuschens. Das waren
lauter fremde Menschen, die ihm neugierig entgegensahen. Es
überschlich ihn ein eigenthümliches Unbehagen, rnid er beschloß,
für seine Unterkunft zu sorgen und erst am andern Tage seine
Tochter anfzusuchen.
Er durchschritt das schmale Gäßchen, das nach dem Mittel-
punkte der Ortschaft führte, und war eben an der Ecke vor
dem Marktplatze angelaugt, als ihm aus dem geräumigen Hofe
eines der Eckhäuser helles, heiteres Lachen eutgegenschallte. Er
blieb unwillkürlich stehen, und thnt einen neugierigen Blick durch
das breite Thor in den Hofraum. Da sah er eine Schaar
dirndl.
ärmlich gekleideter, aber frisch und rothwaugiger Kinder, welche
stehend und ans dem Grasboden sitzend eine Frauengestalt um-
gaben, deren Aufgabe es schien, den lauschenden Kleinen heitere
Geschichten zu erzählen, denn sehr oft wurde die Erzählerin von
lustigem Gekicher der Kleinen unterbrochen, das bei vielen
Stellen von Händeklatschen begleitet wurde. Scheffelberg ver-
mochte nicht' es sich zu versagen, die Gruppe näher zu
betrachten. Er trat tiefer in die Thorwölbung hinein, und
fand nun, daß die Erzählerin auf einem großen Steine neben
einer alten, ärmlich gekleideten Frau saß, deren Gesicht ihm
eben zngekehrt war. Er erkannte die Person, obtvohl er sie
seit achtzehn Jahren nicht gesehen, und trotz des Kummers, der
ihr Gesicht durchsaltet hatte, sogleich.
Es war Rasel, die Ziehschwestec seiner verstorbenen Marie.
Auch sie mußte den Eingetretenen erkannt haben, denn in sicht-
licher Erregung war sie anfgestanden und machte Miene, als
wollte sie ihm zurufen.
„Dort ist ein . . . Fremder", sagte sie indes; zu dem
Mädchen, das neben ihr mit abgewandtem Gesichte saß.
„Frage ihn, was er hier sucht!"
Die Angeredete wandte sich nach dem Fremden und als
sie die freundliche Erscheinung desselben in's Auge gefaßt, stand
sie sogleich auf und trat ihm ohne Scheu entgegen.
Es war ein ungewöhnlich schönes Mädchen mit hellblauen
großen Augen und schlanker, ebenmäßiger Gestalt. Unter dem
schwarzen, kunstvoll geknüpften und nach rückwärts in zwei
breiten Enden herabwallenden Tuche drängten sich goldblonde
Flechten hervor. Scheffelberg war beim Anblicke dieser uner-
warteten Erscheinung ivie erstarrt. Er war wie angewurzelt
stehen geblieben. Seine Lippen aber murmelten den Namen
„Marie! " und zwar laut genug, daß es dem seinen Gehöre
der älteren Frau nicht entgangen war.
„Hans!" schrie sie, überwältigt von ihrer inneren Be-
wegung, und eilte ans Scheffelberg zu. Das blonde Mädchen
aber blieb überrascht und verwundert stehen.
„Rosel!" stammelte Scheffelberg gerührt und drückte treu-
herzig der Frau die Hand, wobei er jedoch einen Seitenblick
nach dein Mädchen warf.
„Sie ist's?" fragte er leise.
„Ja, 's ist die Hanne!" erwiderte Rosel ebenso.
• „Ihr leibhaftiges Ebenbild!" sagte Schefselbcrg bewegt.
„Es ist schon so," bestätigte Rosel, „aberIhr Temperament
ist ein ganz anderes."
Jndeß waren die Kinder, welche über das was sich hier er-
eignete, Angen und Mund weit aufgethan hatten, tvieder an das
blonde Mädchen herangeschlichen, um es mit den kleinen Hündchen
an den Falten des weiten geblümten Rockes zu fassen.
-(Fortsetzung folgt.)
Abgekürzt.
Der Schultheiß Joseph Zacharias Götz hat mehrere
Protocolle zu unterzeichnen. Da ihm das Schreiben nicht recht von
der Hand geht, wird der Landrath ungeduldig und fordert ihn auf,
seinen Namen doch abzukürzen, damit er schneller fertig werde.
Diesem Befehle kommt der Schultheiß auch sofort nach, indem
er sich unterzeichnet: Joseph Zacharias Gö.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Fräulein Dirndl. Eine Stadt- und Dorfgeschichte von Dr. Märzroth"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)