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Basilikale Anlagen mit turmgekrönten Westfassaden treten selten auf; polygonale
Chorabschlüsse lassen sich erst während der Spätgotik feststellen, jedoch meist in
Verbindung mit der überlieferten friesischen Grundform des Saalraumes.
Die Entstehungsgeschichte des friesischen Apsissaales ist bislang nicht hinreichend er-
forscht. Großräumige Erklärungsmodelle, die unter anderem auf Gemeinsamkeiten
mit ähnlich ausgebildeten angelsächsischen Anlagen des 7. Jahrhunderts oder turmlo-
sen, einschiffigen Apsissälen des Mittelmeergebietes - wie sie etwa auf der Insel Elba
auftreten — verweisen, dürften ins Reich der Spekulation zu verbannen sein, solange
bis in Einzelheiten gehende formkritische Analysen fehlen13).

Die wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen
Obgleich sich nicht erhellen läßt, woher die einzelnen Anregungen kamen, darf man
wohl davon ausgehen, daß die Bauform des friesischen Apsissaales in ihrer spezifi-
schen Grundrißdisposition und Raumproportionierung im Bereich des Groninger-
landes, Ostfrieslands und des Jeverlandes entwickelt wurde. Sie konnte so weite und
ausschließliche Verbreitung erlangen, da sie keine hieratische Innenraumgliederung
evozieren wollte und damit dem Selbstgefühl der Bevölkerung entsprach14). Denn
zahlreiche Dorfkirchen Frieslands waren - zumindest in der Zeit vom 11. bis 13. Jahr-
hundert — Genossenschaftsgründungen und wurden von den Bauern selbst verwaltet;
sie konnten sich, durch Rechtssatzungen verankert, ohne die Einflußnahme eines Bi-
schofs oder grundherrlicher Patronatsherren und begünstigt durch eine allgemeine
wirtschaftliche Prosperität, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine lebhafte
kirchliche Bautätigkeit auslöste, zu sakralen Zentren genossenschaftlicher Zusam-
mengehörigkeit frei entfalten15).
Vor diesem Hintergrund kam es zu erstaunlichen Bauleistungen, die nicht nur von
großer Wirtschaftskraft zeugen, sondern darüber hinaus eine Wandlung des religiösen
Bewußtseins und den Wunsch nach repräsentativer Zurschaustellung des bäuerlichen
Selbstgefühls dokumentieren. So wird verständlich, daß in Gemeinwesen mit zentral-
örtlichen Funktionen, kleinen Orten von selten mehr als 1000 Einwohnern, sakrale
Großbauten entstehen konnten, die sich in ihren Dimensionen, der reichen architek-
tonischen und ornamentalen Ausstattung sowie der Turmfreudigkeit durchaus mit
nordwestdeutschen Bischofskirchen messen können. Da aufgrund der friesischen Kir-
chenstruktur wohl auszuschließen ist, daß eine eingesessene hohe Geistlichkeit als
Bauherr in Erscheinung trat und sich der Einfluß der Bischofssitze Münster und Bre-
men allenfalls auf die Vermittlung qualifizierter Bauhandwerker beschränkt haben
wird, dürften diese Kirchen ihre Entstehung weitgehend der Initiative und Opferbe-
reitschaft der autonomen „Landesgemeinden“ verdanken16).
Als beispielhaft für derartige, meist als Kreuzkirchen oder mehrschiffige Basiliken er-
richtete Monumentalbauten kann die Kirche in Marienhafe (Aurich) gelten: eine Basi- 73, 74
lika, die mit 75 m Länge und 23 m Breite vor dem Teilabbruch von 1829 dem Dom in
Osnabrück größenmäßig und in der Gesamtdisposition (dreischiffige gewölbte Basi-
lika mit Querschiff, Seitenkonchen, Hauptapsis und Westturm) weitgehend ent-
sprach. Der ehemals überaus reiche figurale Schmuck entstand vermutlich unter nord- 159
französischem Einfluß17). Aber die Marienhafener Kirche ist kein herausgehobener
Einzelfall; ihr lassen sich in Größe und architektonischer Qualität die wenig später
entstandenen Nachfolgebauten in Osteel (Aurich) und Südbrookmerland-Engerhafe 70, 72
(Aurich) und nicht zuletzt die St. Andreaskirche in Norden (Aurich) sowie, vermut-
lich von noch stattlicheren Dimensionen als die Marienhafener Anlage, die Esener
St. Magnuskirche (Friesland), zwanglos zur Seite stellen — nur um einige der zu dieser
Zeit zahlreich entstehenden repräsentativen Großbauten zu nennen.
Vergessen wir dabei nicht, daß daneben auch in kleinen und kleinsten Ortschaften, in
denen oft nur 100 Eingepfarrte wohnten, mit dem gleichen bemerkenswerten Einsatz

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