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Deutsche Kriegszeitung — 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.3215#0383
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Nurnrnek'

7

Offizierstöchterchen tennen, das mir ihr
Schicksal erzählte, wie sie durch die Nevo-
lution ihrer beiden Brüder beraubt wor-
üen wäre, die nicht einmal begraben wor-
den seien, und wie sie ebenso wie ihr sei-
nes Postens enthobener Vater, ein frühe-
rer Hauptinann, nun auf den Straßen-
handel angewiesen wären.

Ein ebenfalls entlassener Oberst mit
vielen Ovden, Halbinvalide, erschien täg-
lich in den großen Kaffees des Newski-
prospektes und erwarb sich durch seine
eigenarti-gen, freien Allüren auch eine
Popularitüt als cheldenliebhaber. Er
hatte infolge der zu schweren blutigen
Eindrücke der Reoolution einen kleinen
Tick davongetragen und zei-gte nun die
lustige Gewohnheit, alle nichtsahnenden,
kasfeetrinkenden Damen von hinterrücks
an ihren Tischen zu übersallen und zu
küssen. Dabei tat er Äas mit einer so
lauteren Liebenswürdigkeit und galanten
Unschuld, daß sich die überraschten jungen
Schönen nicht einmal zu wehren ver-
mochten. In ihrem Munde hieh er der
hinkende Don Juan oder die Knutsch-
exzellenz. — Ein geeigneter Karikaturist
hätte wahrlich in jenen Tagen ganze
Mappen der originellsten Charakterköpse
und Genrebilder aus dem Petersburger
Strahenleben mitnehmen können! —

Am dritten Tage meines Ausenthaltes
in' Petersburg meldete ich mich bei der
schwed'ischen Mission zur Aufnahme und
Unterstützung von versprengten Kriegs-
gefangenen. Zu Lenin ging ich natür-
lich wohlweislich nicht; wer weiß, was
der cherr noch mit mir angesangen hätte!

Die Mission teilte mir ein Quartier in
einem Soldatenheim zu, zu welchem die
srüheren eleganten Arbeitsräume eines
ehemaligen hohen deutsch-russischen Be-
amten genommen waren. chier wollte ich
mich nicht lange aufhalten; mein Wunsch
war natürlich auch weiter: über die
Grenze! Die Mission gab mir Bescheid,
daß ich in etwa vierzehn Tagen mit
rinem Jnoalidentransport nach Deutsch-
land mitsahren könne.

Die freien zwei Wochen wollte ich aber
aoch benutzen, um einen Abstecher nach
nemem alten, geliebten Mologa zu ma-
hen, um von dort meine zurückgelassene
llniform, all meine schönen sibirischen
Erinnerungen und etwaige noch nicht
empfangene neue Post mit nach Deutsch-
land zu nehmen. Auch hoffte ich, meinen
lieben Freund chermann noch dort anzu- ^
treffen, um so mit ihm die Heimfahrt an- !
zutreten. - Er war es, der mit mir jene ^
schönen Tage im Nonnenkloster geteilt
hat, und den ich so schnöde allein zwischen
all den Jungfern habe sitzen lassen.

Am 19. ließ ich mir von der Mission
einen Paß und Fahrschein nach Mologa
ausstellen, und am 21. Februar war ich
hurch Rpbinsk nach einem vierstündigen
Eilmarsch am Ufer der Wol-ga entlang in
Mologa angelangt, spät gegen Abend.
So lieb war mir öer Mologaer Boden
geworden, daß mich ein Gesühl überkam,
als wäre ich in meine zweite cheimat zu-
rückgekehrt. Fast Hätte ich wie ein Kind
vor Freude weinen mögen.

Es war so spät geworden, daß ich nie-
mand mehr von den Bekannten auf-
suchen konnte. Dar-um stieg ich, um zu
iibernachten, im Gasthaus „Toulon" am
Markt ab. Da dort das Zi-mmer gut und
obendrein das Essen oortrefflich war, ent-
schloß ich mich, auch die folgenden Tage
bis zu meiner Abreise daselbst zu ver-
bleibem

Am nächsten Tage besuchten mich schon
vie alten Kameraden. Sie Yatten irgend-
wie Wind davon bekommen, daß ich ein-
getroffen war. Die Freude des Wieder-
sehens war groß. Darauf besuchte ich
ulle meine Bekannten, und die Gegen-
besuche von Kameraden im Restaurant
und in meinem Zimmer häuften sich.
l Auch hier gingen alle Gefangenen seit
der Revolution frei umher; doch arbeite-
ten sie meist in -der Stadt, um nicht zu
hungern. Mein Kamerad Hermann war

im Januar vom Kloster weggegangen,
nachdem er mit den Nonnen vergeblich
mehrere Monate aus ineine Rückkehr ge-
wartet h-atte und schließlich aus Einsam-
keits- und Heimwehgefühlen trübsinnig
geworden war.

Aber . . . aber!

Die Ankunft eines so fesch gekleideten
neuen Menschen in üeirn kleinen Nest und
die wechselseitigen Besuch-e zwischen mir
und meinen Kameraden sollten nur zu
schnell eigentümliche Folgen haben: Wie
ein Lauffeuer ging es bald durch.das
Städtchen, jeder sprach davon auf d-en
Gassen, in den Schulen, Familien uNd
Teebuden, und bald wußten es alle, das
Unerhörte:

Jm ersten Hotel von Mologa war ein
hoher deutscher Offizier in Zivil abge-
stiegen, ein General oder dergleichen,
ein Agent oder Kommissar, von Deutsch-
land geschickt, um in Mologa die dor-
tigen Kriegsgesangenen und Deutschen-
freunde zu organisier-en; diese sollten die
an und für sich weni-g anerkante und be-
liebte Bolschewikiregierung stürzech die
den Kriegsgesangenen zahlenmäßig un-
terlegene Besatzung auseiuandertreiben
und die Stadt für den Einmarsch der
Deutschen, die schon Petersburg ge-
nommen hätten und vor Moskau stän-
den, vorhereiten.

Man muß sich vorstellen, daß nach
Mologa, einem Städtchen von 4000 bis
6000 Einwohnern, das zur Winterszeit
weder Bahn- noch Schisfsverbindung
hatte, eigentlich nur vereinzelte Nach-
richten, und diese zu-dem stets in ver-
zerrter, parolenhafter Form eintrasen.
Es ist also durchaus verständlich, wenn
solch ein blühender Unsinn von öer
naiven Kleinst-adtbevölkerung, die meist
noch aus Bauern bestand, tatsächlich ge-
glaubt und für ernst gehalten wurüe.
Auch die Militär- und Polizeibehörde
kümmerte sich um den Fall und schenkte
meiner „werten Persönlichkeit" höhere
Aufmerksamkeit.

Jch erh-ielt an einem dieser Tage, als
ich mit meinen Frsunden im Restaurant
saß und ihnen die neueste, von der Reise
mitgebrachte „Moskauer Zeitung" vor-
las, den persönlichen Besuch des cherrn
Polizeipräfekten und zugleich Komman-
mandanten der Roten Garde, Herrn
Woronzow, der sich mir in durchaus höf-
licher Form vorftellte und mich nun re-
gelrecht interviewte, wie das die Zei-
tungsreporter mit berühmten Künstlern
und Staatsmännern tun. Er beschränkte
sich nicht nur aus Fragen direkten Auf-
schlusses über meine Person, sondern
stellte auch Anfragen wie diese: Ob
unsere deutsche cheeresleitung beabsich-
tige, weitere Gebiete Rußlands zu
okkupieren und ob eventuell bis zur
Wolg.a? ... Ob unsre Regierung die
Bolschewikenregierung in ganz Rußland
als ossizielles Regierungsorgan a-n-
erkenne? usw. usw. . .

Über die Aufklärungen, die ich gab, daß
ich der ganz gewöhnliche Kriegsgesan-
gene und vor nicht langer Zeit in Mo-
loga internierte E. I. wäre, war man
ebenso erstaunt wie enttäuscht. Trotzdem
wollte man meine Angab-en nach den
alten Archiven prüsen, mich selbst aber
weiter nicht behelligen. Jch erhielt vom
Kommandanten der Roten Garde sogar
die nachdrückliche schriftliche Erlaubnis,
weiter im cho-tel nach Belieben wohnen
zu dürfen. Jch bin jedoch überzeugt, daß
er schon damals einen Trupp Gar-
disten hinter der Tür bereitstehen hatte
sür den Fall, daß er in mir tatsächlich
einen guten Fang hätte machen können.
Die sreundliche schriftliche Bestätigung
gab er mir auch nur, um mich in meinem
Treiben nicht zu behelligen, sondern im
Gegenteil sicherer zu machen und dann
um so ungestörter beobächten zu können.

Jn der Tat wurde ich von nun an auf
Schritt und Tritt im geheimen, sogar
durch den Hotelwirt, durch seine Be-
-dienten und am ollerraffiniertesten durch

eine schwarzäugige Kokette, die man mir
auf die Bude schickte, um bei mir gegen
die Lockungen der Liebe meine Geheim-
nisse auszuhorchen, genau beobachtet.
Das sollte mich aber wenig stör-en; denn
erstens hatte ich ihnen gegenüber ein
r-eines Gewisfen, und zweitens, wollte ich
jetzt plötzlich abreisen, so hütte ich jeden
Verd-acht gegen mich nur noch gestärkt.
Jch spielte also weiter den Harmlosen,
ging weiter fröhlich zusammen mit
Kameraden spazier-en, zusammen mit
ihnen ins Theater, ja besuchte sogar
meine alte Arbeitstätte, das Frauen-
kloster, wieder.

Dies war mir ein Herzensbedürfnis
igeworden, und mein Wiedersehen dort
und erneuter Abschied von dem mir so
lieb gewordenen Kloster, wo ich längst
totgeglaubt war, geftaltete sich zu einer
kleinen, netten Episode. Als Vorspiel
zu dieser muß ich noch meinen Besuch
auf der Durchreise über Rybinsk bei den
dortigen Nonnen und -der aus dem ersten
Teil meiner Flucht b-ekannten „Mutter
Sinäida erzählen:

Jch kam unverhofst nach kurzem An-
klopfen in das stets etwas dunkle Zim-
merchen des kleinen Gebethäuschens,
aus dem ich in jener Nooembernacht ge-
flohen war, und wo jetzt Mutter Sinaida
mit ihren jungen Nonnen beim Tee-
trinken und Strümpsestricken versam-
melt war.

Sie standen alle sittsam auf, als sie den
seinen Herrn eintreten sahen, grüßten mit
einem frommen christlichen Spruch und
fragten nach meinem Begehr. Solch ein
Moment beim Eintritt in eine russische
Hütte ist immer sehr feierlich.

Jch sagte erst nichts, sondern trat
näher; ich wollte prüfen, ob sie mich
wiedererkannten. Es waren alles noch
dieselben Gesichter. Sie schwiegen aber
verlegen. Dann brach ich üas Schweigen
und sagte ans, wer ich sei. Dumpfe Stille;
alle guckten sich und dann wieder mich
dumm am Fch sagte noch einmal, daß
ich Eugen, ihr Eugen sei!

Da setzte sich Mutter Sina'ida die
Brille auf, schüttelte würdevoll mit dem
Kopse und sagte: „Nein! Unser Eugen
ist uns oerlorengegangen; der ist von
uns geflohen!"

„Ja," sagte ich, „der bin ich ja."

„Nein," erwiderte Mutter Sinaida,
„der war ein einfacher, sanfter Arbeiter.
Wer sind Sie? Jch kenne Sie nicht!" —

Mir tat das Herz weh, als ich Hörte,
wie diese naiven Gottesmenschen mich
nicht erkennen wollten; freilich die Non-
nen hatten mich nur einen Abend ge-
sehen, aber Sinäida, Mutter Sinaida!

Dann erzählte ich ihnen genau, wie ich
geslohen und wie ich ihnen noch die Ab-
schiedsworte aufgeschrieben hütte, und zu-
letzt zeigte ich die Narbe an meiner Hand.

Nun erkannte mich Mutter Sinaida:

„Du Ung-lücklicher, warum hast du uns
damals üas angetan? Drei Wochen
habe ich, nachdem krank zu Bett gelegen.
Wie habe ich dich im Lazarett gepsleg-t,
wie habe ich mich täglich gesorgt um
üich, daß üu auch ja -gesunden möchtest,
um von neu-em unser Stolz und unsre
Freude zu werden, und dann. . . die
An-gst und Schmach deinetwe-gen nach
üeiner Flucht. Bei uns haben sie gesucht
und drüben im Kloster; und ich habe noch
lange gewartet, daß es dich reuen möge
un-d du wiederkehren würdest, und wenn
du zerlumpt und verhungert gewesen
wär-est . . .! Und dann k-am üein Bild
aus Finnland, -daß du Spion seist, unü
die neue Schanüe: Wir hätten dich bei
uns ge-borg-en, dir zur Flucht v-erholfen,
dir Mittel -geschickt.

Das war dein Dank, Eugen!

Jch habe, und ebenso die Mutter Äbtis-
sin, immer geglaubt, du wärest eine gute,
fromme S-eele, nicht so wie die andern
rauhen Deutfchen . . . und nun kommst
du als ein solcher Herr wieder!"

Jch wollte etwas zu meiner Erklärung
und Entschuldigung sagen; aber sie aab

mir selbst mein Kofferchen, ü-as vor Mir
zur Erde stand, wieder in üie chand und
sagte: „Nun geh, G-ott s-ei mit üir!" —

Schweren Herzens ging ich stumm
hinaus. Jch verstand, welchen Seelen-
schmerz ich dieser edlen Frau, me-iner ein-
stigen Wohltäterin, angetan hatte.

Vor dem Bethäuschen v-erweilte ich
noch e-inen Mom-ent am Muttergottesbild
und zog meinen chut ab. Mutter Sinaidn
hatte mir nachgeblickt. Nun kam sie noch
einmal heraus, und schluchzend gab sie
m-ir jetzt die Hand und bat mich innigst,
doch auch bei d-er Mutter Äbtissin vorzu-
sprechen.

Jch versprach dies und ging rasch von
dann-en. Jch woll-te si-e nicht länger seuf-
zen fehen.

Und nun . . . ein paar Tage später in
Mologa. Dort ging ich nicht allein zum
Kloster. chermann begleitete mich. Wäre
ich damals nicht ausgerückt, ich würde mit
ihm wohl heute noch dort schassen und
schalt-en im Schweiße meines Angesichts.

Das Kloster mit seinen sünszehn Tür-
men liegt eine Werst von der Stadt ent-
fernt an dem Ufer der Mologa, nicht
weit, nur durch seine Wiesen getrent,
von der Wolga. Hier hatten wir, fernab
von der cheimat, doch einen der schönsten
Zeitabschnitte unsres Lebens g-eträumt
und genossen.

Dort in Äem mit goldenen Kuppeln
geschmückten Dome hatten wir, wenn
Sonnta-gs unsre Arbeit ruhte, still mit
den Nonnen geb-etet; dort auf den silber-
hellen Wassern haben wir üen Kahn ge-
sleuert, die Nonnen haben siiv uns g-esun-
gen -unü aus Seeblumen Kränze geflochten.
Dort auch haben wir nach heißer Tages-
arbeit die Pferüe zur SchwLmme ge-
ritten oder selbst auch ein ersrischendes
Bad genommen, in unschuldigem Bei-
fammensein mit den Nonnen. Wie schön
ist Äoch die lantere Sittsamkeit der russi-
schen, urwüchsigen Mädchen -gewesen, die
von Prüderien nichts wußten. Dort
drüben auf den Wiesen haben wir, unsre
Maschine lenkend, das dustende Gras ge-
mäht: die Nonnen nahmen das cheu auf
unü sangen wieder und scherzten. Wie
köstlich, wie leicht war uns üa die Arbeit
geworden!

Jetzt, ja jetzt war nur noch die Er-
innerung gebliebem-

Unsere Zimm-erwirtinnen, üie 70 unü
66 Jahre alten „Mütter Ann-a und Sera-
phima" waren ganz unsinnig vor Freude,
uns b-eide zusammen wiederzusehen, uns,
mit denen in Genleinschast sie ein halbes
Jahr wie Mütter und Söhne gelebl
hatten.

Dann ließ-en wir uns bei Jhrer Hoch-
würden der Mutter Äbtissin anmelden,
der wir bei ihrer feierlichen Amtsein-
setzung im Klosterdom unsre Segens-
wünsche zu Füßen gelegt hatten.

Sie e-mpsing uns jetzt nicht, wie sie es
sonst ihren Arbeitern ge-genüber gewohnt
war, in schlichter geistlicher Tracht, son-
dern offiziell in ihrer vollen Amtstracht
mit würdiger, angemessener chaltung.
Mich redete sie ofsensichtlich kühl an; sie
sprach in gefalbtem Tone davon, daß sie
in ihrem innersten Glauben an mich als
einen guten Menschen, d-en sie einst von
mir hatte, wankend g-eworden sei, als sie
üie Meldun-g bekam, daß ich -ein „ge-
wie-gter Spion" geworden sei. Dieser
schmutzige Berus, den si-e als unehrlich
verachte, stoß-e sie jetzt von mir ab.
(Meinen Ein-wand, üaß meine Flucht
fürs Vaterlanü geschehen, und d-aß meine
Schuld als Spion leüiglich ein falscher
Verdacht gewesen sei, wollt-e sie nicht
gelten lassen.)

Dann sprach sie von der politischen
Lage, von den „ra-ubgierigen Deutschen"
überha-upt, wie sich deren „Räuber- und
Unterdrückernatur" jetzt offen gezeigt
habe und ihnen eben „alle Mittel er-
lau-bt" seien. Jch disputierte nach Kräf-'
ten mit ihr un-d zeigte, daß auch ich a-uf
diesem Gebiete -bewandert sei. (-älub 10151.)
 
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