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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0036
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eine gewisse Abfolge der Ereignisse nahe — vom
Heroldsruf der Posaunen, dem Kommen des Rich-
ters, der Eróffnung des Verfahrens bis hin zu Urteil
und Vollstreckung. Die Kunst iibersetzte dieses
Ereignisgerust in die Zonen einer Simultandarstel-
lung. Sie beruht auf der einpragsamen und iiberaus
signifikanten Teilung der Bildflache in Oben und
Unten, Rechts und Links, die sich unmittelbar aus
den Angaben des Evangeliums ergibt8.

Die Hierarchisierung in Oben und Unten symbo-
lisiert den triumphalen und endgiiltigen Charakter
des Gerichts, die Scheidung der Erwahlten „zur
Rechten” und der Yerdammten „zur Linken” des
Herrn hingegen das wesentliche Resultat. Oben in
der gottlichen Zonę thront der Richter, umgeben
von den Rangen seines Hofstaates. Unten, in der
irdischen Zonę, fiihren Abzweigungen zu den Ewig-
keitsorten Paradies und Holle.

In Italien ist seit dem 13. Jahrhundert im Ein-
klang mit der allgemeinen Stilentwicklung eine
zunehmend perspektiyische Verraumlichung des
Gerichtsbildes zu beobachten. Es entsteht die Biih-
ne, auf der die Trennung der Erwahlten und der Yer-
dammten ais ganz gegenwartiges Drama aufgefiihrt
wird. Doch bewahrt das Bild dabei den wesentlich
zweizonigen und achsialsymmetrischen Aufbau.

An dem Tafelgemalde des Jiingsten Gerichts im
Museo di S. Marco in Florenz9, entstanden um
1435—40 in der Werkstatt des Fra Angelico, ist die
Rolle der damals neuen Zentralperspektive zu erken-
nen. Sie akzentuiert hier die Tiefe des verlassenen
Graberfeldes und zugleich die definitive Scheidung
der yielkopfigen Menschheit.

Die 1499 bis 1504 von Luca Signorelli gemal-
ten Fresken des Jiingsten Gerichts in der Cappella
di S. Brizio der Kathedrale zu Orvieto sind ein
Hohepunkt der perspektiyischen Verraumlichung
des Gerichtsbildes und zugleich ein Sonderfall,
insofern das Thema hier in mehreren Einzelszenen
iiber die Wandę der Kapelle yerteilt ist. Signorelli
schenkt den Auferstandenen, den Erwahlten wie den
Yerdammten, in ihrer neuen Yerleiblichung ewige

9 Abbgebildet bei E. Mor antę, U. Baldini, L’opera
completa delt’ Angelico, Milano 1970, Tafel IV—V.

10 Abgebildet bei S. Roettgen, Wandmalerei der Friihre-
naissance in Italien, 2 Bde., Miinchen 1996-1997, Bd. 2: Die
Bliitezeit, Tafel 220.

11 Die Gerichtsbilder des Fra Angelico und des Luca Si-
gnorelli werden in der Literatur haufig ais Voraussetzung von
Michelangelos Gerichtsbild zitiert, so bei Loren Partridge
(siehe Anm. 5), B. Barnes, Michelangelo’s „Last Judgement”.

Jugend. Doch bleiben sie wie im irdischen Leben
der Schwerkraft unterworfen. Fliegen aus eigener
Fahigkeit kónnen nur die Engel und Teufel, die
konseąuent mit Fliigeln ausgestattet sind.

Dab Michelangelo die Fresken in Oryieto gut
kannte, bemerkt bereits Yasari. Dies beweist eine
sehr direkte Entlehnung, die in der Michelangelo-
Literatur stets erwahnt wird. In Signorellis Szene der
Verdammten10 gibt es einen ganz auffalligen Damon,
der seine lebende Beute soeben durch die Luft in
die Holle entfiihrt. Er blickt zu den bewaffneten
Engeln auf, ais fiirchte er bis zuletzt dereń Interyen-
tion. Michelangelo adaptierte das Motiv im rechten
unteren Viertel seines Gerichtsbildes am Rande der
Luftkampfe. Er konnte im iibrigen bei Signorelli die
Vielfalt der manchmal freilich etwas holzern anmu-
tenden Posen und auch die reiche Mimik studieren.
Auch Michelangelos Erweckte sind leibhafte Men-
schen. Doch fand der Kiinstler bei Signorelli gerade
kein Yorbild fiir ihre ganz selbstandige Flugfahigkeit
und Aktiyitat11. Michelangelos Biograph Condiyi
registriert diese Flugfahigkeit, macht aber keinerlei
Andeutung, sie ais singulare oder gar befremdende
Neuerung wahrzunehmen. Sie ist indessen tatsach-
lich ohne Prazedenz in der Typengeschichte des
Gerichtsbildes.

In einer bis heute folgenreichen Studie von
1976 suchte Marcia B. Hall die Eigenart von Mi-
chelangelos Gerichtsbild auf Paulus’ Lehre von der
Auferstehung des Fleisches zuriickzufiihren12. Der
Apostel beschreibt das Schicksal der Toten und der
am Gerichtstag noch Lebenden ais Verwandlung und
Entriickung: So im ersten Brief an die Korinther —
ich zitiere nach der deutschen sogenannten Einheits-
iibersetzung: „Wir werden nicht alle entschlafen,
aber wir werden alle yerwandelt werden — plotzlich,
in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall.
Die Posaune wird erschallen, die Toten werden zur
Unyerganglichkeit auferweckt, wir aber werden
yerwandelt werden. Denn dieses Yergangliche muB
sich mit Unyerganglichkeit bekleiden und dieses
Sterbliche mit Unsterblichkeit”13. Der Ausdruck

The Renaissance Response, Berkeley—Los Angeles—London 1998,
S. 20—27, und Marcia B. Hall.

12 M. B. Hall, Michelangelo'’s „LastJudgment”: Resurrection
of the Body and Predestination, Art Bulletin, 58: 1976, S. 85—
92; auch dies.: Michelangelo. The Frescoes of the Sixtine Chapel,
New York 2002, S. 159-161.

13 Paulus unterscheidet den sterblichen Leib (psychikon),
der beim Tod des Individuums untergehe, von dem unsterbli-
chen (pneumatikon), den der Mensch am Jiingsten Tag erhalte.

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