Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0206
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
189

in den einzelnen Gliedern unter einander in Bezug auf ihre urfprüngliche Beftim-
mung, oft auch durch die grofse Zahl von Thier- und Menfchengeftalten, die in
mehr oder minder gezwungener Haltung bauliche oder decorative Functionen aus-
üben , durch das Ueberhandnehmen phantaftifcher Thierfiguren und durch die un-
natürlichen Stellungen der letzteren und der Menfchengeftalten. Geradezu wider-
wärtig wirken die Verirrungen der Phantafie in einer Reihe von Entwürfen zu
Bettftellen, welche aus der letzten Zeit des älteren Die Cerceau herrühren. Die
urfprünglichen und normalen Formen, welche von einem »conftructiven« Bett abge-
leitet werden können, find zu Gunften von Formen, welche animalifche Gefchöpfe
in unnatürlichen Stellungen darftellen, zu fehr preisgegeben.
Eine unerfreuliche, übertriebene Bizarrerie ift auch in einem Entwürfe zu fehen,
den der ältere Du Cerceau für das halbrunde Gebäude, welches auf der Terraffe
unter dem Schlöffe zu Verneuil-fur-Oife zwifchen zwei kleinen Pavillons errichtet
werden follte, ausgearbeitet hat.
Eines der Gebiete, in welchem fich das Ausarten der Phantafie zuerft zeigte,
ift dasjenige der Cartouchen. Ihr Mafsftab wird übertrieben; die Zahl ihrer vor-
tretenden, eckigen oder aufgerollten Zacken wird gröfser und verwickelter; oft
werden zwei, ja drei Cartouchen um einander oder auch auf einander geheftet u. f. w.
Selbft beim grofsen, ftreng fittlichen und für das reformirte Chriftenthum
begeifterten Palifjy ift der Zug des Phantaftifchen ausgefprochen, und zwar bei ihm
mehr, als bei irgend einem Anderen. Doch fallen feine phantaftifchen Gebilde
möglichft den Charakter von »Naturwundern« an fich tragen, eben fo wie feine
Verehrung für die Natur, als der Schöpfung Gottes, ihn in feinen decorativen
Werken unmittelbar nach der Natur geformte Gegenftände, wie Fifche, Pflanzen,
Mufcheln u. f. w., in realiftifcher Weife anwenden läfft.
Bereits im Jahre 1563 fchreibt Paliffy418): »Ich weifs, dafs jede zur Gewohnheit gewordene Thor-
heit, jeder Wahn und jede Narrheit {Folie) als Gefetz und Tugend gehalten wird; aber davon will ich
mich nicht beeinflußen laffen , und ich will keineswegs ein Nachahmer meiner Vorgänger fein, aufser in
demjenigen, was fie nach der Anordnung Gottes gethan haben. Ich fehe folcb grofse Mifsbräuche und
Unwiffenheit in allen Künften, dafs es den Anfchein hat, als ob alle Ordnung zum gröfsten Theile entartet
(yperverti) fei.«
In mehreren Fällen tritt das Bizarre fchon in ziemlich früher Zeit in Werken
der Hoch-Renaiffance, deren fonftige Detailausbildung fcharf und gut ift, auf. Dies
fcheint eine der Eigenthümlichkeiten zu fein, welche eine Gebäudegruppe zu Tou-
loufe, die angeblich den Charakter des Nicolas Bachelier trägt, aufweist: bizarre,
reich bewegte decorative Anordnungen find in fcharfem, fchön gebildetem Detail
ausgeführt.
Die mit bewegten, phantaftifch- bizarren Hermen überladenen Fenfter des
Hotel Lasbordes zu Touloufe könnten zum Theile in das Zeitalter Puget's verlegt
werden, wenn nicht das Detail und der Charakter der Durchbildung auf die Mitte
des XVI. Jahrhundertes hinweifen würden. Fig. 47 419) zeigt, wie an diefem Gebäude
die bizarren Umrahmungen der Schule von Fontainebleau auf die äufseren Formen,
wie z. B. auf die Fenfier angewendet worden find, wo fie ein ganz willkürliches
Gemifch ornamentaler Formen und Figuren bilden.
In anderen Fällen ift es die Bizarrerie gewiffer Bauglieder und decorativer
Anordnungen, die fich in eine der Hauptfache nach ftreng componirte Fagade
41S) In: La recepte veritable. La Rochelle 1564 u. Paris 1880. S. 24.
419) Nach einer Photographie von Mieufement in Paris.

198.
Frühes
Auftreten
des
Bizarren.
 
Annotationen