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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0295
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278

3Ö9-
Italienifche
Vorbilder.

37°-
Meig/bnnier.

37T-
Andere
Meifter.

Erft die Fähigkeit, hier ficher fchaffen zu können und durch »Compenfation«
zwifchen ungleichen Elementen das Gleichgewicht der Harmonie zu erreichen, be-
friedigt den Meifter der freien Richtung. Man gelangt zur Verwirklichung des Ideals
des Ungebundenfeins. Und doch ift es ftets eine »Harmonie des Ungebundenen«,
etwas wie ein Fefthalten am Anftand, den der Salon verlangt.
An der inneren Hauptthür der Kirche Sant' Andrea des Jefuiten-Noviziats zu Rom hat Bernini gegen
den Fries, das Gefims und den Giebel der fonft ftreng gebildeten Thür zwei grofse Engel gleichfam angeklebt.
Der eine fitzt auf dem Gefims; der andere fliegt heran, um fleh ebenfalls zu fetzen, und trompetet während
des hierzu nöthigen Umkehrens, um feine Ankunft zu melden. Erfterer Engel ift viel höher geflellt, hält
in der Rechten ein grofses Wappenfchild gegen den Giebelfcheitel, aber in ganz fchräger Richtung; aus
feiner linken Hand läfft er eine ungeheuere Schriftrolle fahnenartig in die Höhe und feitwärts flattern.
Carlo Fontana (1683) läfft das Rundmedaillon über der Thür von San Marcello am Corfo zu Rom
an der einen Seite von einem flehenden grofsen Engel, an der anderen von einem kleinen fich bückenden
halten, nur der Unfymmetrie zu Liebe. Aehnlich ift das Medaillon über der Thür in Piazza di Maria
in Pafßone zu Genua gehalten.
Von Jufte-Aurele Meiffonnier fchreibt Davillier57x): »Er unterfcheidet fich von
Allen durch den übertriebenen und bewegten Jourmente) Charakter feiner Com-
pofitionen. Sie find von anmuthiger Frivolität, und die gerade Linie ift forgfältig
aus ihnen verbannt.« Allein in Art. 324 (S. 252) wurde bereits dargethan, dafs
Meiffonnier nicht ausfchliefslich diefer gewundenen Durchbildung der Architektur
huldigte und dafs bei ihm Elemente einer ftrengeren Richtung vorhanden find.
Zimmer-Decorationen Meiffonnier s, wie diejenige für den Grafen Befenval, oder für
ein Cabinet in Portugal 5 7 2) darf man dagegen wirklich als Rococowerke bezeichnen.
Die gewundenen Beine des Spiegeltifches und die Schnörkel der Mufcheln, Cartouchen
und Rahmen, Alles fcheint, wie vom Winde ergriffen, fich zu krümmen und, oben
bei den gewundenen Gefimsftücken angelangt, wie Blätter in einer Staubwolke
herumzuwirbeln.
Der Gipfelpunkt der Formenentwickelung diefer freien Phafe des in Rede
flehenden Stils fcheint — wenn auch nicht chronologifch, da der Stil noch dreifsig
Jahre fortlebte —- in einigen diefer Compofitionen Meiffonnier s zu liegen. Es ift
fchwer, eine vollftändigere Befeitigung aller geraden Linien zu erreichen, als dies
in der Grotte gefchehen ift, die Fig. 66 571 572 573) zeigt. Selbft die Pfeiler und Strebe-
pfeiler gleichen fich überftürzenden Wellen oder fcheinen mit dem herabftürzenden
Waffer davon eilen zu wollen. Die Gefchmacksverirrungen find kein Hindernifs,
bei Meiffonnier die fichere Beherrfchung der Formen anzuerkennen. Allerdings find
mir in Frankreich ausgeführte Bauwerke diefer Richtung nicht bekannt geworden.
Bei Jean Pillement (1719—1808), der in Paris, London und Lyon arbeitete,
findet man wiederum Rococo-Compofitionen auf Grund der S-Form, wo Alles, ftatt
in confolenartigen Felfen ausgeführt zu fein, mittels Bäumen und Pflanzen in natür-
licher Form hergeftellt ift574). Er hat viele chinefifche Elemente verwendet 575).
Dies ift die Zeit, in welcher die Gärten von Lenötre durch folche Mans le goüt
anglo-chinois«, verdrängt werden.
Bei P. E. Babel nimmt diefe Richtung andere Eigenthümlichkeiten an. Grofse
Gartenportale werden in den verdrehteften Linien dargeftellt, die für bizarre Um-
571) Im Vorwort zu: Guilmard, D. Les Maltres ornemaniftes etc. Paris 1881. S. XV.
572) Abgebildet ebenda!., PI. 52.
573) Facf.-Repr. nach: Oeuvre de Jziß-e Aurelie Mei/firnier etc. Paris (ohne Jahreszahl). Fol. 35.
574) Abgebildet in: Jessen, P. Katalog der Ornamentftich - Sammlung des Kunftgewerbe-Mufeums zu Berlin.
Leipzig 1894. S. 53.
575) Siehe das Nähere in: Guilmard, a. a. O., S. 188.
 
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